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© Ullstein

Die Küche der Futuristen: Nieder mit der Nudel!

Die Futuristen schätzten den Krieg und hassten die Pasta. 1931 öffnete in Turin die "Taverne zum Heiligen Gaumen" in der sie die italienische Küche revolutionieren wollten.

Wer nach Turin kommt und dort nach den vielen gastronomischen Attraktionen der Stadt sucht, sollte vielleicht kurz innehalten und in der Via Vanchiglia Nummer 2 seinen Dank abstatten. Das Haus liegt versteckt in der Nähe der Piazza Vittorio Veneto mit ihren stattlichen Arkaden. Es war bis vor kurzem ein Reisebüro, jetzt hat man es in eine Mitnahme-Pizzeria verwandelt. In den Jahren des Faschismus jedoch stand an dieser Stelle für kurze Zeit das berühmteste Restaurant Italiens. Es galt als Ausgangspunkt einer kulinarischen Revolution. Das Essen, das dort serviert wurde, war nach Ansicht seiner Schöpfer die essbare Entsprechung zur Entdeckung Amerikas oder der Erstürmung der Bastille.

Der Heilige Gaumen sollte am Sonntag, dem 8. März, eröffnen – dieses Datum, so hieß es in der Werbung des Restaurants, werde „in die Geschichte der Küchenkunst eingehen“. Als der Tag da war, mussten die geladenen Journalisten in der Kälte fast bis Mitternacht warten, bevor sie eingelassen wurden. Als sie das Lokal schließlich betraten, staunten sie über die von dem Architekten Diulgheroff gestaltete Einrichtung: Aluminium vom Fußboden bis zur Decke und große, in die Wände eingelassene Lampen. Das Essen, das ohne Messer und Gabel serviert wurde, musste großen Erwartungen gerecht werden.

Intuitive Vorspeise
Ein Korb aus einer ausgehöhlten Orange, gefüllt mit mehreren Arten Salame, Butter, Champignons in Essig, Anchovis und grünen Chilischoten

Luftviktualien
Schwarze Oliven, Fenchelherzen und kandierte Bitterorange

Äquator und Nordpol
Aus rohem, mit Salz, Pfeffer und Zitronensaft verrührtem Eidotter wird ein „Meer am Äquator“ geschaffen. In seiner Mitte erhebt sich eine kegelförmige Meringueninsel; diese wird verziert mit Orangenschnitzen und Stücken von schwarzem Trüffel, in die Form von Flugzeugen geschnitten.

Ultramännlich
Ein Hummerschwanz in der Schale, überzogen mit grüner Zabaglione und angerichtet auf geometrisch angeordneten Krabben und Kalbszungenscheiben. Der Teller wird verziert mit Hahnenkämmen und einem Zylinder aus Scheiben von Zitronen, Trüffeln und frittierten Hoden.

Die Taverne zum Heiligen Gaumen war das erste und einzige futuristische Restaurant. Zum ersten Mal wurden hier die Prinzipien, die man im „Manifest des Futuristischen Kochens“ formuliert hatte, in die Praxis umgesetzt. Das wichtigste und sensationellste dieser Prinzipien war nicht die Mischung widersprüchlicher Aromen oder Phallussymbole als Mittelpunkt eines Menüs, sondern die Abschaffung der pastasciutta. Die pasta war in den Augen der Futuristen die „absurde gastronomische Religion Italiens“. Für das Tempo und die Dynamik des modernen Lebens, so hieß es, seien Nudeln zu schwer und klobig. Sie behinderten insbesondere die Begeisterung der Neapolitaner und machten sie zu skeptischen, ironischen, sentimentalen Menschen. Am schlimmsten aber war, dass pasta dem Pazifismus Vorschub leistete. Ihre Abschaffung wurde erstmals im November 1930 von dem wichtigsten Redner verkündet, der bei der Eröffnung des Heiligen Gaumens sprach: von Filippo Tommaso Marinetti, dem Begründer und Leiter der Bewegung, der oft nur als FT bezeichnet wurde.

Der FT war ein energischer, glamouröser, in Ägypten geborener Dichter, der von seinem Vermögen lebte. Ein Wendepunkt war in seiner Laufbahn erreicht, als er die führende Pariser Zeitung „Le Figaro“ dazu veranlassen konnte, am 20. Februar 1909 auf der Titelseite das Futuristische Manifest abzudrucken. Darin forderte FT eine Revolution, die weit über Kunst und Dichtung hinausgehen und alle Lebensaspekte Italiens umfassen sollte. Er wollte das Land aus seiner Fixierung auf die Vergangenheit lösen und zu diesem Zweck Museen und Bibliotheken zerstören.

Der Futurismus feierte alles, was in der Industriegesellschaft neu zu sein schien: die Städte mit ihren wimmelnden Menschenmengen, Bahnhöfen und Werkstätten, vor allem aber die Geschwindigkeit, den Lärm und die Kraft der Maschinen. Italiens Bauwerke, seine Politik, seine Gebräuche und Gewohnheiten sollten sich das Tempo eines rasenden Autos zu eigen machen: „Wir verherrlichen den Krieg (die einzige Hygiene der Welt), den Militarismus, den Patriotismus, den destruktiven Gestus der Libertären, schöne Ideen, für die es sich zu sterben lohnt, und die Verachtung für die Frauen ... wir bejubeln aggressive Bewegungen und fiebrige Schlaflosigkeit.“ Diese Gruppe von Pariser Aktivisten machte den Futurismus zur einflussreichsten italienischen Kunstrichtung seit der Renaissance. FT sammelte ein kleines Heer von Anhängern, und die Futuristen machten die Runde in italienischen Theatern, wo sie ihre Schriften vortrugen, ihre Gemälde zeigten und ihre Vorstellungen von Musik und Kleidung zur Schau stellten. Bei solchen Veranstaltungen hatten sie Spaß daran, wenn sie mit Obst und Gemüse beworfen wurden und mit Angehörigen des Publikums kämpften.

Der FT, der zwanzig Jahre später bei der Eröffnung des „Heiligen Gaumens“ seine Ansprache hielt, gab ein ganz anderes Bild ab. Jetzt trug der korpulente Vierundfünfzigjährige stets Anzug und Fliege – was gut zu seinem kleinen Schnauzbart und der Glatze passte. In der gesamten westlichen Welt versäumte es kaum eine Zeitung, über das Ende der Spaghetti zu berichten. Aber in Italien hatte man sich schon seit langem an die Schocktherapie der Futuristen gewöhnt. Man darf bezweifeln, dass die italienische Presse dem Gedanken an die Abschaffung der pastasciutta so viel Nachsicht entgegengebracht hätte, wenn FT nicht ein persönlicher Freund des Duce gewesen wäre.

Historiker, die sich mit italienischem Essen beschäftigen, sind ebenso wie Futurismusexperten nahezu einhellig nicht begeistert von der futuristischen Kochkunst. Es fällt schwer, eine andere Ansicht zu vertreten.

Die Geschichte des Heiligen Gaumens zeigt, wie stark die künstlerische Avantgarde unter Mussolini domestiziert war. In ihrem 1932 erschienenen Futuristischen Kochbuch achteten sie sorgfältig darauf, dass das Kriegsgeschrei des faschistischen Kampfes um das Getreide zu hören war: „Man muss daran denken, dass die Abschaffung der pastasciutta Italien von teurem ausländischem Weizen unabhängig machen und die einheimische Reisindustrie unterstützen wird.“ Der Faschismus verwendete viel Energie darauf, den Reis durchzusetzen, und verteilte sogar kostenlose Proben an Bewohner der südlichen Landesteile, die nie einen besonderen Geschmack daran gefunden hatten.

Die Gerichte, die im Heiligen Gaumen serviert wurden, beförderten auch den Mythos von der italienischen Sparsamkeit. Sie waren als Antwort auf die Forderung gedacht, „Volumen und Gewicht aus unserem Denken über wertvolle Ernährung zu verbannen“; gleichzeitig sollten sie die Italiener auf den Tag vorbereiten, an dem sie im Radio nicht nur die Sendungen über den Duce hörten, sondern tatsächlich vom Radio ernährt wurden: Damit hätte die faschistische Propaganda über den Äther ihre Erfüllung gefunden.

Der Text ist ein gekürzter Auszug aus dem jetzt erscheinenden Buch „Delizia! Die Italiener und ihre Küche. Geschichte einer Leidenschaft“ von John Dickie. S. Fischer Verlag, 444 Seiten, 22,95 Euro.

John Dickie

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