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© Polaris/laif

Essen und Trinken: Jetzt wird’s gemütlich

Wenn es draußen schneit und stürmt, macht es sich der Mensch drinnen bequem – am liebsten schön faul, mit einem Snack vor dem Fernseher. Kulturgeschichte eines Massenphänomens.

Alle tun es, aber keiner spricht darüber. Wenn es Abend wird und die Temperaturen weit unter den Gefrierpunkt sinken, werden die wenigen abgehärteten Berliner Spaziergänger Zeugen eines schier unverwüstlichen Phänomens: Hinter den mit Eisblumen verkrusteten Fensterscheiben flackert es fernsehblau, allüberall. So, wie es bereits ihre Vorfahren getan haben, wärmen sich die Menschen Stockwerk für Stockwerk am elektronischen Lagerfeuer. Draußen rieselt der Schnee, drinnen berieselt „Wer wird Millionär?“. Und weil zu so einem Lagerfeuer ein Snack gehört, versuchen sie, ebenso wie ihre Vorfahren, eine geeignete Position auf dem Sofa zu finden, in der sie möglichst krümelfrei essen und dabei fernsehen können, ohne dass die Gliedmaßen einschlafen.

Einer der wenigen bekennenden Fernseh-Esser ist Sternekoch Tim Raue. Der Chef des „Ma“-Restaurants antwortete jüngst auf die Frage nach seinem Lieblingsplatz: „Auf dem Sofa ,Frasier’ gucken und Lab Ped essen und dabei den Arbeitstag angenehm ausklingen lassen.“ (Wobei Lab Ped leider nichts mit dem Laptop zu tun hat, vielmehr handelt es sich dabei um einen asiatischen Entenbrust-Salat.) Mit anderen Worten: Wer den ganzen Tag über hart arbeitet und dabei womöglich viel plappert, hat sich das informelle, stumme Essen vor dem Fernsehapparat mehr als redlich verdient.

Das „TV Dinner“, wie es auf amerikanisch heißt, ist zwar fast so alt wie der Röhrenfernseher, aber im Gegensatz zum Flimmerkasten längst nicht ausgestorben. In den Goldenen Fünfzigern, als viele Familien in Übersee es sich endlich leisten konnten, ein TV-Gerät im Wohnzimmer aufzubauen, wollte man natürlich möglichst keine Sendung verpassen. Bereits 1960, schreibt Gerry Schrempp in seinem Buch „Kitchen Culture – Fifty Years Of Food Fads“, verfügten schon 46 Millionen amerikanische Familien über ein Fernsehgerät.

Ein gefundenes Fressen für die Industrie: Gerry Thomas, ein Vertreter der Tiefkühlkostfirma Swanson, erfand das Original-„TV Dinner“. Sein erstes, zunächst dreigeteiltes Aluminiumtablett enthielt Pute mit Mais, gebutterte grüne Bohnen und Süßkartoffeln. Später kam ein viertes Minifach für den Nachtisch dazu, in dem passgenau ein Blaubeermuffin oder ein Pudding steckte. Inspiriert gefühlt hatte sich Thomas vom Flugzeugessen der Pan American Airways, und dann war da noch die viel zu große Lieferung Putenfleisch, die konserviert werden musste …

Für seine Lebensleistung bekam Gerry Thomas sogar eine Ehrung auf dem Walk of Fame in Hollywood – und im Juli 2005 einen großen Nachruf in der „New York Times“. Swanson ist heute noch das einzige Unternehmen, das „TV Dinner“ auf seine Verpackung schreiben darf. Seit der Erfindung der Mikrowelle geht es noch schneller: Früher brauchte eine Swanson-Mahlzeit 20 Minuten zum Auftauen und Erhitzen, heute nur noch drei.

Für die Hausfrau, damals Alleinherrscherin in der Küche, bedeutete das mehr Zeit für Friseur und Emanzipation: Statt wie anno dazumal bis zu fünf Stunden täglich in der Küche zu stehen, fiel nun das Kochen und vor allem das leidige Abwaschen einfach aus. Allerdings starb mit dem Aufkommen des TV-Dinners auch das gemeinsame Essen am Tisch: Jedes Familienmitglied konnte fortan selbst entscheiden, wann es dem Hungergefühl nachgeben wollte. Die SwansonWerbekampagne wirbt mit dem Bild einer gehetzten Ehefrau, die um fünf vor sechs ein tiefgekühltes Alutablett in den Ofen schiebt, während der Mann gerade seinen Hut auf der Garderobe verstaut: „Keine Sorge, Schatz, das Essen ist gleich fertig!“ Von der Reaktion des Ehemanns, begeistert oder auch nicht, ist keine Rede.

Für die Amerikaner fällt das TV-Dinner trotz oder gerade wegen des verminderten kulinarischen Anspruchs in die Kategorie „Comfort Food“ – ein Aspekt, der heute vielleicht noch wichtiger ist als damals. Das findet jedenfalls Andrew Rubin vom Loews Regency Hotel in Manhattan. Der Koch bereitet für den Zimmerservice in dem Luxushotel an der Park Avenue das klassische TV-Dinner auf dem Tablett, allerdings für 30 Dollar statt für vier. Dafür gibt es aber auch kein frittiertes Hühnchen mit Erbsen, sondern Lachs in Wasabi-Kruste als Hauptgericht.

Man muss sich ein solches Essen in etwa so vorstellen wie Nachkriegsdeutschland – nach dem Kern eines TV-Dinners gefragt, antwortete Rubin Andrew: „Unterm Strich ist es wohl einfach nur das in vier Zonen geteilte Tablett.“

So viel zur Stunde null des warmen Fernsehfraßes. Die Zeiten, in denen die Menschheit eine Fernsehsendung unbedingt zur festgelegten Uhrzeit schauen musste, sind dank moderner Aufzeichnungstechnik längst vorbei. Und trotzdem wird munter weiter vor dem Fernseher gefuttert. Weil die vielen Kochsendungen so hungrig machen? Weil sich der Zuschauer mit einem Teller auf dem Schoß selbst zum perfekten Promi-Dinner einladen kann?

Erstaunlicherweise werden gerade die Produkte, die sich hierzulande als Fernsehsnack eignen, mit besonders glamouröser Requisite beworben. Eine Tiefkühlpizza „Ristorante“ (Erfindungsjahr: 1968) landet etwa beim romantischen Dinner auf einer Brücke häppchenweise zwischen den roten Lippen einer Dame im Abendkleid, ein Toastschnitzel „Toasty“ wird in einer ultramodernen Küche, die über die technischen Möglichkeiten für die Produktion eines Gala-Essens verfügt, knusprig getoastet – et voilà, der Konsument möge doch bitte im Unterbewussten abspeichern, das Brot für das stets den Gaumen verbrennende „Bistro Baguette“ entstamme auf direktem Wege einer französischen Boulangerie.

Der Fernseher selbst darf natürlich in diesen Spots keine Rolle spielen, steht er doch für das beiläufige Mampfen und damit auch für Faulheit und letztendlich Übergewicht. Erlaubt ist das alles offiziell nur ab dem Halbfinale einer Fußballweltmeisterschaft – für Männer. Frauen wird das Vertilgen von größeren Mengen Häagen-Dasz-Eis direkt aus der Verpackung nur bei Liebeskummer auf Meg-Ryan-Niveau zugestanden. Warum sonst findet sich in den meisten Videotheken eine Gefriertruhe?

Wie gemacht für das perfekte TV Dinner ist der Pizza-Lieferservice. Überhaupt, Italien – dort läuft der Fernseher fast ununterbrochen, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen, sozusagen als Hintergrundrauschen für den Familienzirkus.

Fast könnte man annehmen: Je dünner der Fernseher, desto dicker die Zuschauer. Eine Vertreterin des Kochbuchverlags Gräfe und Unzer teilte sogar auf Anfrage mit, dass Essen vor dem Fernseher nicht mit der Verlagslinie zu vereinbaren sei – in Anbetracht des riesigen Marktes wahrscheinlich eine ungenutzte Geldquelle. Dann schon lieber „Fingerfood“, ein lupenreiner Euphemismus fürs tabuisierte Essen vor dem Fernseher.

Kaum jemand wird sich dabei so praktischen Mobiliars bedienen können wie Nancy und Ronald Reagan. Zwar gibt es eine Handvoll flexibler „TV Trays“ amerikanischen Ursprungs, doch die ultimative Lösung wurde noch nicht entwickelt – ebenso wenig wie das Tablett mit Fernbedienungsablage.

Dabei wird es langsam Zeit: Bill Gates proklamierte bereits vor drei Jahren das Ende des Fernsehens „in spätestens fünf Jahren“. Bleiben also nur noch zwei Jahre, bis mit dem Fernseher womöglich auch das Wohnzimmer ausgedient hat. Diese zwei Jahre müssen ausgenutzt werden!

Denn früher oder später wird der Menschheit aufgehen: Am gemütlichsten ist es sowieso in der Wohnküche. Und wenn man einmal dort ist, kann man auch endlich wieder nebenher kochen.

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