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Mehl: Gute Typen

Ob Pizza oder Strudel, Pfannkuchen oder Spätzle: Für den perfekten Teig braucht es die passende Mischung. Wie man aus Mehl eine Delikatesse macht.

Nicole Kamrath mischt weißes Pulver. Sie hat eine Schürze um, vor ihr steht eine Waage. Nicole Kamrath blickt auf ihre Karteikarten, auf denen die Zusammensetzung steht, an die muss sie sich genau halten, von der Mischung hängt alles ab. Sie wirft einen Blick auf die Waage und kippt weißes Pulver in einen Topf.

Nicole Kamrath betreibt das „Mehlstübchen“ in der Leberstraße in Berlin-Schöneberg, einen Laden nur für Mehl. Gerade macht sie Pizzamehl: Hartweizen und zu gleichen Teilen Weizendunst und 550er Mehl, auf ihrem Gesicht, ihren Haaren liegt eine feine weiße Schicht. Auf dem Boden stehen dicke Säcke, eine hölzerne Getreidemühle gibt es auch, es sieht ein bisschen aus wie bei Max und Moritz, und es riecht nach Wärme und Brot.

Auf den hölzernen Regalen stehen weiße Päckchen, darin Amarant, Buchweizen, Stollenweizen, Roggen, Biodinkel, Schrot fein, Reismehl in den Varianten Bio und Nicht-Bio. Daneben Pizzamehl, Mehl für Brioches und für Muffins, die Bauernbrotmischung „Schrot und Korn“. Nicole Kamrath hat all diese Mischungen selbst gemacht, stundenlang musste sie backen, bis sie heraus hatte, welches Mehl am besten für Baguette geeignet ist, und wie viel Hartweizen ein Teig verträgt, damit die Pizza nicht knochenhart wird.

Nicole Kamrath sieht kurz von ihrer Arbeit auf. Sie redet wenig und sehr leise, wenn sie zwischen den Mehlsäcken hin und her huscht, hat das etwas Schüchternes. So, als hantiere sie mit etwas sehr Kostbarem. 23 Jahre ist sie alt und eigentlich gelernte Zahntechnikerin, aufgewachsen in Rostock. Aber dann wollte sie sich selbstständig machen. Als Marktlücke erwies sich ausgerechnet Mehl – die guten, unbehandelten Sorten gibt es nämlich nur direkt bei den Müllern, in den Mühlenläden, zu kaufen. Nicole Kamrath las alles, was es über Mehl zu lesen gibt, mischte Mehl, verbackte es. Ende 2006 hat sie dann gemeinsam mit einem Freund, der auch noch Müller heißt, das Mehlstübchen eröffnet.

Neulich kam eine Familie und kaufte dem Vater zum 70. Geburtstag 70 verschiedene Sorten. Denn Mehl ist wahrlich nicht gleich Mehl. Es gibt nicht nur die einzelnen Getreide und die verschiedenen Arten der Körnung, also glattes Mehl, halbgriffiges, griffiges oder doppelgriffiges, je nachdem, ob man es für Pfannkuchen braucht (glatt) oder für elastischen Strudel- oder Spätzleteig (griffig). Es kommt zum Beispiel beim Weizenmehl auch darauf an, auf welchem Boden der Weizen gewachsen ist. Je nährstoffreicher der Boden ist, desto proteinreicher der Weizen, und desto mehr Klebeeigenschaften hat er. Klebt er gut, bäckt es sich auch besser. Roggen backt sich weniger gut als Weizen, und ein italienischer Hartweizen, für Nudeln perfekt, lässt ein Grießsoufflé viel zu fest werden.

Die Typen, die Auskunft darüber geben, wie viel Milligramm Mineralstoffe in einen Kilo Mehl enthalten sind, sind noch das Einfachste. Den Weizen der Type 405 kennt jeder, dieses Allzweckmehl der deutschen Küche. In Nicole Kamraths Laden sieht man aber auch Etiketten wie „Roggen Type 1150“, „Biodinkel Type 630 oder 1050“, auf einer Liste stehen dann noch die verschiedenen Klassen des Weizen, von E wie Eliteweizen bis zu K wie Keksweizen. In diesem Laden ist alles voller Zahlen und Buchstaben – wenn man nicht wüsste, dass es um Mehl geht, man könnte denken, bei dem weißen Pulver handle es sich um Medizin.

Ein bisschen ist es das vielleicht ja auch. Horst Müller etwa ist nicht über Brötchen oder das Backen zum Mehl gekommen, sondern über seinen Arzt. Müller, 52 Jahre alt, früher Wirt von Beruf, hat Diabetes. Der Arzt riet ihm, Vollkornbrot zu essen. Das war Müller auf die Dauer zu teuer, er beschloss, sein Brot selbst zu backen. Das Mehl, das er verträgt, musste er allerdings erst finden. Er ist direkt zu den Müllern gefahren und hat sie ausgefragt, hat sich im Internet Wissen angeeignet. Irgendwann wusste er so viel über Mehl, dass er sich zutraute, es zu verkaufen. Jetzt sitzt Horst Müller mit Schiebermütze auf einem Barhocker im Mehlstübchen und fachsimpelt mit einem Kunden über Sauerteig. Müller findet, dass zu gutem Brot immer ein bisschen Altbrot gehört, mit dem der Sauerteig gewissermaßen „geimpft“ werde. Wegen der Röststoffe, die in der Brotkruste sind und die 80 Prozent des Geschmacks eines Brots ausmachen.

Leicht sei es mit dem Mehl nicht für ihn gewesen, sagt Horst Müller. Die Müller waren misstrauisch, als da ein Autodidakt daher kam und ihnen ihr bestes Mehl abkaufen wollte. Viele Müller haben ihren eigenen Mühlenladen. Inzwischen kennen sie Horst Müller, er bekommt sogar Mehl aus der Mühle in Sanssouci, das auf Stein gemahlen wird.

Zwei Tonnen Mehl im Monat werden im Laden verkauft. An Bäcker und Köche, das Lokal Maultäschle in Mitte ebenso wie an Frühsammers Restaurant, aber auch an Leute, die Allergien haben, etwa gegen das Klebereiweiß Gluten, das in Sorten wie Getreide, Roggen oder Gerste vorkommt. Zöliakie heißt diese Allergie, die Entzündungen im Dünndarm auslöst, man rechnet damit, dass in Deutschland 0,5 Prozent der Bevölkerung diese Krankheit haben, in manchen Ländern liegt der Anteil bei ein bis zwei Prozent. Nicole Kamrath mischt ihnen die richtigen Mehle, auf ihren Karteikärtchen notiert sie genau, was die Leute vertragen und was nicht. Und für die, die es noch nicht können, veranstaltet sie jede Woche einen Backkurs in ihrem Laden.

Nicole Kamrath schüttet ihre Mischung in ein Päckchen und stellt es zu den anderen. Im Regal sind schon Mehle aus Südamerika, Nordafrika oder Asien. Mehl aus Kichererbsen und aus Kokosnüssen, 80 verschiedene Sorten. Das teuerste, das Kamuth-Mehl, kostet 3,60 Euro das Kilogramm, es ist eine Urform des Weizens und wegen seines Klebers besonders gut zum Backen. Und was wird am meisten verkauft: der Klassiker. Das 405er.

„Mehl erzählt so viele Geschichten wie Wein“, sagt Horst Müller. Davon, wo das Getreide gewachsen ist, ob es viel Sonne hatte oder aus biologischem Anbau stammt. Derzeit erzählt das Mehl vor allem von den Mechanismen der Märkte. Getreide ist zum Spekulationsobjekt geworden, Müller und Kamrath müssen jetzt 50 Cent für ein Kilo guten Mehls ausgeben, vor drei Jahren waren es noch 25 Cent. Schlechte Ernten gab es auch, der Dinkelpreis ist um 300 Prozent gestiegen. Zudem wird Getreide in der Energiegewinnung verwendet, Stichwort „Heizen mit Weizen“. Darüber kann Horst Müller sehr zornig werden: „Bedrohte Arten werden geschützt, aber niemand schützt unser Getreide.“

Kolja Kleeberg, Koch im Restaurant Vau, sieht das nicht ganz so pessimistisch. Die Deutschen hätten durch ihre Brottradition schon noch „einen sehr starken Bezug zum Mehl“. Anders als in Ländern, in denen vor allem Weißmehl verwendet wird und Brot nur eine Beilage ist. Kleeberg kauft das Mehl ebenfalls bei einem Händler, der es von einer Mühle bezieht. Er arbeitet viel mit Roggen und Dinkel, weil er das Brot selber backt. Zum Fischmelieren nimmt er aber den Klassiker Nummer 405.

Und was wurde aus der Mehlschwitze? „Aus der Mode, allerdings völlig zu Unrecht“, sagt Kolja Kleeberg, dessen früherer italienischer Chef das Mehl vor dem Saucenbinden sogar noch im Ofen angeröstet hat. Sicher, manche hätten es übertrieben mit der mehligen Pampe. Aber, erzählt Kleeberg, bestimmte Saucen könne er überhaupt nur mit Mehl herstellen. Bei Wildgerichten zum Beispiel, die mit Blut gebunden werden, denn sonst würden sie gerinnen. Auch für seine Champagner-Kutteln nimmt Kleeberg eine mehlgebundene Grundlage. „Butter und Sahne als Ersatz für Mehl sind schließlich auch nicht gesünder.“

Mehlstübchen, Leberstraße 28, 10829 Berlin, Mo-Fr 10-18 Uhr, Sa 9-14 Uhr. Info www.brotbackzutaten.de. Bestellungen auch übers Internet.

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