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Ein Werbeplakat von 1929.

© picture-alliance / Mary Evans Pi

Gesellschaft: Schwarz auf Weiß

Es riecht seltsam, es klebt, es sieht aus wie Schuhcreme. Trotzdem lieben die Engländer ihr Marmite. Und sind „not amused“, dass die Dänen den Hefeaufstrich nun verboten haben

Während Griechen und Spanier in den vergangenen Wochen gegen Sparprogramm und Arbeitslosigkeit demonstrierten, kämpfen die Engländer an anderer Front. Per Twitter kündigten sie an, dänische Waren wie Carlsberg-Bier aus den Supermärkten zu entsorgen, einige Aktivisten luden sogar zur Mahnwache vor der dänischen Botschaft. Und dabei ging es nicht um die Zukunft eines Landes, sondern um die eines braunen, klebrigen Produkts, das wie Schuhcreme aussieht und wie Maggiwürze schmeckt.

Marmite ist ein Brotaufstrich aus Hefeextrakt, er stammt aus England, dort werden jährlich 25 Millionen Gläser mit der Paste verkauft. In Dänemark wurde Marmite in diesem Jahr aus den Geschäften genommen, da der Aufstrich mit Vitaminen angereichert ist und die Dänen hierzu strenge Auflagen haben. Dass sowohl Exil-Briten in Dänemark als auch ihre Landsleute auf der Insel so vehement dagegen protestierten, zeigt, dass Marmite mehr ist als eine weitere kulinarische Verirrung der Briten. Zum 100. Geburtstag von Marmite 2002 entwarf Vivienne Westwood eine T-Shirt-Kollektion, der Duke of Edinburgh besuchte die Produktionsstätte. Wahrscheinlich ist Marmite der einzige Brotaufstrich, der es eines Tages in ein Wörterbuch schaffen könnte: Der „Marmite-Effekt“ ist ein Synonym dafür, dass sich an einer Sache die Geister scheiden. Während die meisten Nicht-Engländer das braune Zeug überhaupt nicht mögen, ist es auf der Insel in jedem vierten Haushalt zu finden.

„Keine andere Marke ist so britisch“, sagt Seamus Waldron. Der 40-Jährige kennt sich aus mit britischen Klischees, schließlich, so sagt er, und dabei zwitschern die Vögel durchs Telefon, wohne er sogar in einem. Tritt Waldron vor die Tür, blickt er in ein Tal der Grafschaft Buckinghamshire, an den Wochenenden reiten die Nachbarn auf ihren Pferden vorbei. Vielleicht sitzt Waldron dann gerade beim Frühstück und isst wie jeden Morgen zwei Toasts, mit Butter und Marmite. Das ist die typische Verwendung, doch Waldron, der Softwareentwickler ist und die Seite Ilovemarmite.com ins Leben gerufen hat, geht noch weiter: Er isst Marmite auch auf Erdnussbutter und mischt es in seine Spaghetti. „Marmite hat Suchtpotenzial“, sagt er, „aber das schadet nicht, so gesund wie es ist.“

Der Ruf, gesund zu sein, hat Marmite einst zum Erfolg verholfen. Nachdem der Chemiker Justus von Liebig im 19. Jahrhundert entdeckt hatte, dass man die Hefe, die beim Brauen als Abfallprodukt anfällt, als Nahrungsmittel verwenden kann, wurde 1902 die Marmite Food Extract Company gegründet. Ihr Standort war Burton-upon-Trent in Staffordshire, dort gab es viele Brauereien und damit Hefe für den Brotaufstrich, den die Firma – nach dem französischen Wort für Kochtopf benannt – verkaufen wollte.

Es war ihr Glück, dass zehn Jahre später Vitamine und deren Bedeutung entdeckt wurden, denn damit war das Argument für ihr Produkt gefunden: Als Hefeextrakt enthielt Marmite gleich fünf B-Vitamine, die wichtig für Stoffwechselvorgänge sind: Thiamin (Vitamin B1), Riboflavin (Vitamin B2), Niacin (Vitamin B3), Folsäure (Vitamin B9) und Spuren von Cobalamin (Vitamin B12).

In den folgenden Jahren fand Marmite reißenden Absatz in Krankenhäusern und Schulen. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde es Soldaten mitgegeben, weil man hoffte, Thiamin werde sie in den Tropen vor Beriberi schützen, und ein Doktor Alexander Goodall teilte 1932 in einer medizinischen Zeitschrift mit, er habe seine Anämie-Patienten mit Marmite behandelt, und sie hätten sich gut erholt. Aus diesem Grund wurde Marmite, dem ursprünglich nur Salz, Gewürze und ein Sellerieextrakt beigefügt waren, später zusätzlich mit den genannten fünf B-Vitaminen angereichert.

Die genaue Zusammensetzung kennen nur wenige. St. John Skelton ist einer von ihnen. Die korrekte Arbeitsplatzbeschreibung des 59-jährigen Biochemikers lautet: Manager in der Qualitätsabteilung, man könnte ihn auch den Marmite-Cheftester nennen. Etwa zehn Brauereien beliefern die Fabrik, die immer noch in Burton-upon-Trent steht, mit Hefe. Sie wird gefiltert, von Bitterstoffen befreit und angereichert, dann kommt sie in acht Tonnen schwere Container, und diesen nähert sich Skelton mit seinem Tester-Teelöffel. Skelton testet den Brotaufstrich seit insgesamt 18 Jahren, meist viermal täglich, nicht gestimmt habe der Geschmack nur zweimal, sagt er am Telefon. Die Vorzüge von Marmite: „Man muss es nicht in den Kühlschrank stellen, und weil man es so dünn aufs Brot streicht, hält es einfach ewig.“

Das wurde für den Unilever-Konzern, der Marmite 2000 aufkaufte, zu einem Problem. 2002, im Jubiläumsjahr von Marmite, stiegen die Verkäufe um elf Prozent an, dann fielen sie ab, die Menschen zehrten von ihren Reserven. Aus diesem Grund bringt Unilever zahlreiche Marmite-Variationen auf den Markt, zum Beispiel mit 0,3 Prozent Champagner angereichert zum Valentinstag und einem goldenen Label statt einem weißen. Zu groß dürfen die Veränderungen aber nicht sein. Als der Metalldeckel 1984 durch einen gelben Plastikdeckel ersetzt wurde, gab es Unmut; die Briten lieben gerade das Unwandelbare an dem Produkt.

Englische Marketing-Experten sprechen deshalb von der Marmiteglas-Strategie, wenn es um behutsame Anpassungen einer Marke geht, die trotz aller Modernisierung der Tradition verhaftet bleiben soll. Genauso eine Marke ist auch die Queen, und so berief man sich im Palast auf die Marmiteglas-Strategie, als man nach dem Tod Dianas den PR-Berater Simon Lewis engagierte, um der Queen zu einem neuen Image zu verhelfen.

Neben dem Traditionsbewusstsein schätzen die Briten eine Eigenschaft an dem Brotaufstrich, die der ehemalige Sportminister Tony Banks auf den Punkt brachte, als er anlässlich des 100. Geburtstags von Marmite eine parlamentarische Debatte anregen wollte. „Wir empfinden“, sagte er, „tiefe Befriedigung angesichts der Tatsache, dass Marmite grundsätzlich britisch ist und der Mehrheit der Weltbevölkerung nicht zusagt.“

Dale Carr, die in ihren „Broken English“-Geschäften in Kreuzberg und Charlottenburg britische Lebensmittel, darunter auch Marmite, verkauft, kennt Engländer, die mit süffisantem Lächeln zusehen, wenn sich Ausländer die Paste daumendick aufs Brot schmieren, als handle es sich um Marmelade oder Nutella, und auf den anschließenden Schrei des Entsetzens warten. Und der kommt bestimmt: Marmite hält man nur in hauchzarten Dosen aus, so intensiv ist der salzig-würzige Geschmack, und selbst dann ist er vielen noch zu penetrant. „Entweder du liebst es oder du hasst es“, lautet folgerichtig der Marmite-Werbeslogan.

Die Verbundenheit der Engländer mit der Paste ist so groß, dass Dänemark sich zuletzt gezwungen sah, in die Offensive zu gehen. Man gab eine Pressemitteilung heraus, die sogar auf der Webseite der dänischen Botschaft zu finden war: Marmite sei nicht ganz verboten worden, hieß es, sondern vorübergehend aus dem Sortiment genommen, weil alle angereicherten Lebensmittel erst ein Genehmigungsverfahren durchlaufen müssten.

In Deutschland sieht man die Frage, ob Marmite gesundheitsschädigend sein könnte, gelassener. „Die B-Vitamine gelten eher als unbedenklich“, sagt Antje Gahl von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Unerwünschte Nebenwirkungen ergäben sich nur in Ausnahmefällen, zum Beispiel wenn man Thiamin intravenös aufnehme. Doch auf die Idee, sich Marmite zu spritzen, sind bislang selbst die größten Marmitefans nicht gekommen.

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