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Gesellschaft: Science Kitchen

Nathan Myhrvold liebt Essen und ist stinkreich: So entstand „Modernist Cuisine“. Sein Werk versammelt das aktuelle Weltwissen über das Kochen

Ein Kochbuch im herkömmlichen Sinn ist das nicht. Es sind Wälzer, mehrere. 23 Kilo wiegt die Kiste mit den sechs Bänden „Modernist Cuisine“, und die Produktion hat Millionen von Dollar verschlungen. Kein Verlag der Welt hätte das vorfinanziert, doch für den Autor Nathan Myhrvold stellt das kein Problem dar, denn er schöpft aus anderen Quellen genug Geld, um zur Frankfurter Buchmesse mit dem Privatjet anzureisen.

Myhrvold ist ein Küchenverrückter, hat bei Profis gelernt und war Restaurantkritiker – und so hat er sich den Luxus gegönnt, den aktuellen technischen Stand der Küche zusammenzutragen, also das zu leisten, was Auguste Escoffier vor mehr als 100 Jahren für die französische Hochküche getan hat. Mehr noch: Fünf Bände fassen das komplette Fachwissen vom richtigen Händewaschen bis zum Umgang mit High-Tech-Zentrifugen zusammen, auch eine Methode zur Messung der Lichtgeschwindigkeit im Mikrowellenofen mit Hilfe von etwas Schmelzkäse fällt dabei ab. Der sechste Band, etwas einfacher gestaltet, enthält exemplarische Rezepte.

Der 52-jährige Myhrvold ist ein freundlicher Mann mit grauem Vollbart, ungefähr so, wie man sich einen deutschen Oberstudienrat (Physik/Chemie) vorstellen würde. Seinen Deutschland-Besuch absolviert er mit einer mächtigen Spiegelreflexkamera im Anschlag, neugierig forschend trotz Jet-Lag. Neugier: Als er neun Jahre alt war, setzte er durch entschlossenes Flambieren einen Truthahn in Brand, dann wurden seine Experimente seriöser. „Wenn mir die Naturwissenschaften nicht dazwischen gekommen wären“, sagt er, „dann wäre ich wahrscheinlich Küchenchef geworden.“

Die allerdings kamen massiv dazwischen: Mit 14 nahm er ein Studium auf, machte Masterabschlüsse in Ökonomie, Geophysik und Raumphysik, promovierte in mathematischer Physik und wechselte mit 23 nach Cambridge, um dort bei Stephen Hawking über die Quantentheorie der Schwerkraft zu forschen. Dann gründete er eine Software-Firma, die zwei Jahre später von Microsoft aufgekauft wurde, arbeitete dort fortan als Technik-Chef. Heute leitet er die eigene, sehr umstrittene Firma „Intellectual Ventures“, die sich mit der Verwertung von eigenen und fremden Patenten beschäftigt und dabei Milliarden umsetzt.

Doch im Grunde geht es ihm meist nur ums Essen: Als Amateur half er dem Barbecue-Spezialisten John Willingham bei der Weltmeisterschaft, schaffte es später auf gewundenen Wegen, als Nicht-Profi auf der Pariser Kochschule Varenne angenommen zu werden, lernte Top-Köche wie Marc Meneau und Marc Veyrat kennen, wurde Cheftester des Zagat-Restaurantführers und hörte von einem Verrückten namens Ferran Adriá, dem spanischen Avantgarde-Koch. „Das war 1995 und zu weit weg“, sagt er, „sonst hätte ich die modernistische Revolution zu einem früheren Zeitpunkt kennenlernen können, als ich es tatsächlich tat.“

Modernistisch – da ist das Wort, das dem Buch den Titel gegeben hat. Es ersetzt in Myhrvolds Terminologie den Begriff „Molekularküche“, mit dem es teilweise gleichzusetzen ist. Doch er will mehr: Nicht nur den Umgang mit den – umstrittenen – neuen Techniken und Zusatzstoffen lehren, sondern nahezu jeden Kochvorgang untersuchen und optimieren. Dabei nimmt er einen typisch amerikanischen, gewissermaßen positivistischen Standpunkt ein: „Das Buch dreht sich um Wissen“, meint er entwaffnend, „darüber kann man nicht diskutieren. Man kann es nutzen, oder eben auch nicht.“ Myhrvold ersetzt den genialischen Spontankoch, der erst im späten 20. Jahrhundert zum Ideal wurde, durch einen hochqualifizierten Laboranten, der eher wie ein Konditor arbeitet und kein Detail dem Zufall überlässt.

Bei den Pommes fängt es an. Generationen von Köchen haben gelernt, dass man die Kartoffelstäbchen einmal bei relativ geringer Hitze vorfrittiert, dann abkühlen lässt und anschließend noch einmal frittiert, diesmal heißer. „Das gibt meist ein gutes Ergebnis“, sagt auch Myhrvold, doch seine Ziele sind höher gesteckt. Er analysierte zunächst die berühmten „Pommes Pont-Neuf“ des modernistischen britischen Starkochs Heston Blumenthal, der die Kartoffeln zunächst weich kocht und dann im Vakuum trocknet, bevor sie in die Friteuse kommen. „Ein neuer Standard in den Annalen der frittierten Kartoffel“, fand Myhrvold, und wollte diesen Standard sofort übertreffen. Seine aktuelle Version: Er kocht die Stäbchen im Vakuumbeutel vor, setzt dann Stärke zu, vakuumiert wieder, legt den Beutel in ein Ultraschall-Wasserbad, trocknet sie im Vakuum – dann erst wird zweimal frittiert, fertig. „Die besten Fritten, die wir jemals gemacht haben“, rühmt er, „bis jemand anders kommt und was anderes erfindet.“

Aus solchen Verwicklungen wird deutlich, dass es sich nicht um ein Amateurkochbuch handelt. Es setzt den technischen Standard einer hochmodernen Profiküche voraus, verlangt oft mehr als das. Dennoch können ausgefuchste Amateure daraus einen Haufen lernen, schon, weil es so wissenschaftlich präzise formuliert ist, genauer als jedes andere Kochbuch; ohne eine Apothekerwaage geht hier kaum etwas. Nirgendwo sonst gibt es eine Tabelle mit den mengenmäßig optimierten Aromaten für Fleisch- und Fischbrühen, nirgendwo sonst werden die aktuellen Profitricks so systematisch zusammengefasst. Wie geht das perfekte Grillhähnchen mit der leeren Bierdose im Bauch? Hier steht es. Wie hat Fredy Girardet Fisch gegrillt? Wie macht man den perfekten Hamburger? Das steht da auch, allerdings in einer unglaublich komplexen Version, die selbst Profis in blankes Staunen versetzen dürfte: Brötchen, Glasur, Maitake-Pilz, Eisbergsalat mit flüssigem Hickory-Rauch geräuchert, komprimierte Fleischtomate, konstruierter Käse aus Emmentaler, Comté und Weizen-Ale, ein Burger aus der Hochrippe, Pilzketchup mit Honig und Fischsauce, Brötchen. Kaum anzunehmen, dass so etwas nach dem Fototermin noch einmal irgendwo auf der Welt hergestellt wird; die Burger-Revolution bleibt wohl vorerst Papier, freilich sehr schön bedrucktes.

Viele Kapitel haben bereits intensive Diskussionen ausgelöst. Ist es zum Beispiel notwendig, mit allerhand Zusatzstoffen „konstruierten Käse“ herzustellen? Möchten wir Gourmet-Gerichte, deren Fleisch- und Fischbestandteile mit Transglutaminase zusammengeklebt sind wie der berüchtigte „Formvorderschinken“? Möchten wir überhaupt, dass die Zusatzstoffe, die die Industrie gerade nach Kräften aus ihren Zubereitungen zu entfernen versucht, durch die Gourmet-Hintertür wieder hereinkommen? Das heiße Gelee von grünem Apfel enthält neben Apfelpüree Fruktose, Calciumglukonat, Niedrig-Acyl-Gellan, Hoch-Acyl-Gellan, Xanthan und Natriumhexametaphosphat – vermutlich würde kein Mensch so etwas essen, wäre es auf der Speisekarte vollständig deklariert.

Es geht ums Wissen, antwortet Myhrvold routiniert, außer der Industrie hatte nun mal niemand die Forschungsbudgets – so what? Und wenn man ihn fragt, ob das, was er da zusammenträgt, nicht alles doch ziemlich unnatürlich und insofern verdammenswert sei, dann holt er zu einer mittellangen Rede aus, die darauf hinausläuft, dass selbst etwas so scheinbar Natürliches wie Kristallzucker das Ergebnis eines komplexen industriellen Raffinadeprozesses sei. Mit philosophischen Fragen ist ihm nicht beizukommen. Hier ist mein Wissen, macht was draus.

Dabei geht es Myhrvold nicht in erster Linie um einen Kodex der Spitzenküche. Eines der Rezepte basiert auf der Idee eines französischen Küchenchefs in Seattle, bei dem er einst gearbeitet hatte: Garnelen in Gänselebersauce. „Ich wollte das nicht verbessern, sondern eine spezifische Technik illustrieren, mit der die Saucenemulsion stabiler wird“, erläutert er. „Das Original zerfällt sehr schnell, und das stellt in einfacheren Restaurants ein Problem dar, die versuchen es dann gar nicht erst.“ So, meint er, können die neuen Techniken gerade die kulinarische Mittelklasse befruchten.

Die Arbeit an der Zusammenfassung dieses Wissens hat etwa drei Jahre gedauert. Bis zu 40 Mitarbeiter waren beschäftigt, haben Hochgeschwindigkeitsfotos gemacht, Dutzende von Töpfen und Pfannen buchstäblich zersägt, um eine eigene Bildsprache zu schaffen.

„Die besten Köche treiben einen ungeheuren Aufwand mit ihrem Essen“, hat Myhrvold herausgefunden, „aber wenn sie dann ein Buch herausgeben, dann ist das Papier billig, die Bilder sind langweilig und der Druck taugt nichts. Das wollte ich besser machen.“ Es ist ihm gelungen: 399 Euro kostet das Werk in Deutschland – das entspricht ungefähr einem Essen für zwei in einem sehr guten Restaurant. Allerdings bekommt man es sehr viel schwerer die Treppe herauf.

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