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Gesellschaft: Sizilien Süßes

Da staunt unser deutscher Schriftsteller: Schon zum Frühstück gibt es hier fruchtiges Eis. Und mit viel Gezuckertem, den Dolci, geht es den ganzen Tag weiter. Eine kulinarische Insel-Reise.

Als ich mit einem Leihwagen vom Flughafen Catanias aus ankomme, empfiehlt mir die junge Frau an der Rezeption, das Abendessen ganz in der Nähe, bei Peppino, einzunehmen. Dort sei immer etwas los, und außerdem gebe es bei Peppino besonders gute Dolci.

Ich bin reichlich spät, aber das macht nichts – sagt Giovanni, mein Berater und Kellner. Vorne, an der kleinen Bar im Eingang, soll ich zunächst Platz nehmen und auf Kosten des Hauses einen der guten Liquori trinken, die nicht nur alle hausgemacht sind, sondern deren Grundstoffe auch aus eigenem Anbau stammen. Es gibt Zitronen-, Zimt-, Schokoladen- oder Kräuterlikör, und jeder dieser Liquori beruht auf uralten Rezepten, die bis zu den Zeiten der Römer zurückreichen.

Als ich alle Liquori probiert habe, ist mein Appetit auf die klassischen italienischen Gerichte längst verflogen. Ich sehne mich höchstens noch nach etwas weiterem Süßen, und als ich Giovanni das sage, nickt er nur bestätigend mit dem Kopf: Die Dolci, erklärt er, seien die zweite sizilianische Mahlzeit, und sie seien eindeutig die raffiniertere. Die Sizilianer liebten die Dolci mehr als alles andere, mehr als Pasta, Fleisch, Fisch, ja, die Dolci seien die ureigenste sizilianische Küche, basierend auf den Früchten und Aromen der Insel, auf Orangen, Zitronen, Mandeln und schwerem, süßem Wein, Produkten eines Sonnenlandes, das mit Hilfe der Dolci den hohen Temperaturen trotze. Wer will, wenn es derart heiß ist wie auf Sizilien, viel Fleisch und Fisch essen? fragt Giovanni und antwortet gleich selbst: Niemand, kein Mensch. Wenn es sehr heiß ist, mehr als dreißig, vierzig Grad, ernährt man sich manchmal den ganzen Tag über nur von Dolci. Sie beinhalten alles, was der Körper zum Leben braucht, das Süße wie das Bittere, sie sind unsere eigentliche Mahlzeit, und wir wetteifern um nichts mehr als darum, die besten herzustellen. Jede gute sizilianische Familie hat ihre eigenen Rezepte, jede hat ihr Dolci-Wissen, ist das nicht fantastisch?

Als endlich ein kleiner Zweipersonen-Tisch frei wird, bestelle ich eine große Flasche Wasser und eine Auswahl von Dolci. Und Giovanni serviert kleine Kuchen, verschiedene Sorbets, klein geschnittenes Obst (für zwischendurch), Eis und Pralinen. Der ganze Tisch ist schließlich mit lauter Dolci gedeckt, und ich beginne zu begreifen, dass ich ganz nebenbei auf ein großes Sizilien-Thema gestoßen bin.

Als ich die Trattoria als einer der letzten Gäste verlasse, scheint mein ganzer Körper von den süßen Aromen durchdrungen. Und draußen, im Freien, scheinen diese Aromen plötzlich ebenfalls allgegenwärtig: Was für ein herrlicher Geruch, was für ein Duft von Blüten und allerhand Grünem! Ein Erdblütenduft! Ein Duft, der von den schweren, dunklen Bäumen herkommt, die hier und da an den kleinen Plätzen der Via Etnea stehen! Solche Düfte machen aus den warmen Windböen dichte Polster, die vor den Hauseingängen lagern oder in den Tordurchfahrten lauern.

Am kommenden Morgen nehme ich mir Zeit, die lang gestreckte Via Etnea von meinem Hotel aus bis hinunter zum Domplatz zu gehen. An den größeren Plätzen stehen kleine Eiswagen, die bereits am frühen Morgen stark frequentiert sind. Es gibt die traditionelle Eiscreme, es gibt aber auch Sorbets und schließlich die besonders erfrischenden Granite, die meist nur aus Wasser, Zucker und Fruchtsaft (Zitrone!, Mandarine!) bestehen. Auch die Granite werden in kleinen Bechern serviert, die in einem Stück gefalteten Papier stecken, damit die Hand keine Tropfen abbekommt.

In Gestalt der Granite ist der gewaltige, das ganze Jahr über schneebedeckte Ätna in den Städten und Dörfern seiner Umgebung präsent. Manchmal schauen die Einwohner hinauf zu dem im Sonnenlicht leuchtenden Gipfel, und wenn während dieser Blicke etwas von dem gestoßenen, körnigen Eis der Granite auf der Zunge zergeht, ist die Fantasie nicht weit, dass man auf der Zunge direkt den fernen Schnee des Ätna kostet. (Viele Sizilianer beginnen das Frühstück mit einer Granita, in die kleine Stücke Brioche getaucht werden. Erst nach langsamem Verzehr dieses Duos von Kälte und duftiger Basis wird der erste starke Caffè getrunken, danach folgt noch ein Glas Wasser. Die Dreiheit von Granita (mit Brioche), Caffè und Wasser ist wie ein von innen belebendes, eiskaltes und gleichzeitig stärkendes Bad, die pure Erfrischung der Frühe …)

Da, wo die größeren Plätze in schmalere Gassen übergehen, locken andere Dolci. Denn hier stehen Männer meist mittleren Alters an den Straßenecken mit allerhand Süßigkeiten und Bonbons, die in buntes Papier gewickelt sind und, in großen Holzkisten aufgetürmt, daliegen wie süße Spreu, die man sich nun zur weiteren Versorgung mit Süßem in die Taschen stopft. Es handelt sich um Ossa di morto (Totenknochen), die aus einfachsten Zutaten (etwas Mehl, Zimt, Gewürznelken und Zucker) bestehen und meist auf der Unterseite leicht dunkel karamellisiert sind, sonst aber vollkommen weiß und porös erscheinen, als wären es luftige Baisers. Das aber sind sie nicht, sie sind erheblich fester und süßer, man bricht sie durch und lässt die Stücke dann auf der Zunge zergehen, erst nach einer Weile lösen sie sich langsam auf und geben den starken Zimt- und Nelkengeschmack frei.

Das kleine Städtchen Enna, das auch „der Nabel Siziliens“ genannt wird, liegt auf hohen Felsmassiven fast eintausend Meter über dem Meer. Und dieses Enna (mit seinen schmalen, dunklen, gewundenen Gassen) soll ein weiteres Zentrum der sizilianischen Dolci-Produktion sein? Enna liegt einsam, der Ort gibt sich streng, karg, weltabgewandt. Und entsprechend streng, karg und minimalistisch sind seine Dolci. In Enna setzt man auf Trockenheit, Festigkeit, Einfachheit. Seine Dolci sind wie Bergsteiger-Nahrung, die man in Taschen und Rucksäcken immer parat hat. Die für diese Region typischen erhält man denn auch nicht in einer für diese Stadt untypischen Pasticceria (wo jene Dolci imitiert werden, die man auch sonst in Sizilien überall bekommt), sondern in einer Biscottificio wie etwa der gleich neben dem Dom (mit dem schönen Namen Sapori di Sicilia – Via Roma 446/448). Eine Biscottificio ist eine Pasticceria secca, in der es vor allem Biskuits, trockenes Gebäck, haltbares, süßes Brot und eventuell noch einige delikate Konfitüren oder Marmeladen gibt, mit denen man die Trockenheit dieser Dolci nach eigenem Geschmack durch Hinzufügung von kleinen Geschmacksträgern verfeinern kann. Besonders gut gelingt das mit Hilfe von Tricotti, lang gestreckten, brotähnlich aussehenden, sehr einfachen Keksen, die aus nichts anderem als Mehl, Sauerteig, Schmalz, Zucker, Salz und Butter bestehen

Konfitüren und Marmeladen bester und hausgemachter Qualität findet man auf Sizilien fast überall, in Lebensmittelläden, in Pasticcerien, in Bäckereien, aber auch in einfachen Bars, in der Nähe der Kasse. Sie sind so etwas wie ein Grundnahrungsmittel, das den großen Vorteil hat, je nach Belieben – zusammen mit einfacheren Substanzen (wie etwa den Tricotti) – eingesetzt werden zu können.

Und dann der triumphale Abschluss: Eine Bomba di ricotta! Der Biskuitmantel, der diese Bomba gerade noch an ihrer Hinterseite zusammenhält, erscheint durch eine große Öffnung zwischen der vorderen Ober- und Unterseite wie ein riesiges, breit aufstehendes Maul, in dessen unverschämt offen stehendem Schlund man eine Überfülle von Ricotta-Creme gelagert hat. Sie wurde mit Mandeln, Schokoladensplittern und winzigen Stücken Zitronat noch etwas verfeinert und glänzt so dreist und auftrumpfend, dass jeder Genießer sofort versteht: Nach diesem Groß-Genuss geht es nicht weiter! Oder doch?! Aber ja, denn jetzt, nach Genuss dieses Finales der Dolci-Kette können wir endlich auch das ewige Wasser-Trinken beenden. Und stattdessen?! – Und stattdessen mit einem kleinen Glas süßen Marsala-Weins schließen.

Der Text ist ein gekürzter Auszug aus Hanns-Josef Ortheils Buch „Die Insel der Dolci – In den süßen Paradiesen Siziliens“, das gerade erschienen ist (LangenMüller, 160 Seiten, 19,99 Euro).

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