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Die Jagd nach dem besten Dresdner Stollen ist der sechste Fall unseres kulinarischen Detektivs. Zuletzt erschienen die Linzer Torte (21. Oktober), Zürcher Geschnetzeltes (8. Juli) und das Wiener Schnitzel (8. April). Mehr zu Michael Dietrichs Stollen-Favoriten unter baeckerei-krause.de und cafe-maass.de.

© Brigitte Wegner/StockFood

Stollen-Bäckerei: Das Wunder von Dresden

Mehl, Butter, Mandeln, Rosinen ... – die Zutaten sind vorgeschrieben. Doch warum ist kein Stollen wie der andere? Diesmal fahndet der kulinarische Detektiv in Sachsens Hauptstadt.

Neulich in einem Dresdner Hotel blieb mein Blick an einem Teller mit Stollen haften. Echten, in Dresden gebackenen Striezel, so das sächsische Synonym, hatte ich lange nicht mehr gegessen. Und er schmeckte fantastisch!

Ich erkundigte mich nach dem Schöpfer. Ulrich Bärisch, 38, Bäckermeister im „Hilton“, setzte sich zu mir und verwies stolz auf den Butter- und Rosinenanteil in seinem Stollen, der höher sei „als vom Verband gefordert“. Trotzdem sei sein Backwerk vergangenes Jahr mit nur 17,85 von 20 möglichen Punkten bewertet worden.

Wer verbirgt sich hinter dieser Jury? Ein Anruf bei der Bäckerinnung. Obermeister Henry Mueller ist gleichzeitig Vorsitzender des „Schutzverbandes Dresdner Stollen“. „Wir achten sehr genau auf die Qualität unserer 134 Mitglieder“, sagt er. Wer bei den jährlichen Tests keine 16 Punkte schafft, darf seine Produkte nicht „Dresdner Stollen“ nennen – selbst wenn er sie hier nach bestem Wissen zubereitet hat.

Mueller lädt mich zur Verkostung ein. Also nehme ich am nächsten Tag eine Straßenbahn, die mich vom Zwinger in der Altstadt bis zum Neubau der Handwerkskammer im Norden Dresdens bringt. Doch alles ist schon vorbei, als ich ankomme! Nur der Leiter der „Akademie Deutsches Bäckerhandwerk in Sachsen“, André Bernatzky, 38, ist noch da. Er erzählt mir, wie der Verband verdeckte Ermittler einsetzt: „Alle Bäcker fürchten sich vor diesen Besuchen.“ Die seit 2010 europaweit geografisch geschützten Backwaren landen schließlich dort, wo wir gerade sitzen, beim Obersten Dresdner Stollengericht. Bestehend aus unabhängigen Fachleuten, EU-Kontrolleuren und einem externen Labor.

Für Mogelpackungen, die mit Margarine, künstlichen oder naturidentischen Aromen und Konservierungsstoffen gebacken wurden, gibt es hier keine Gnade. Aber die Dresdner Bäcker meiden derlei unerlaubte Hilfsmittel sowieso.

Auch die Mindestmengen an Zutaten stecken in fast allen Stollen. Pro Kilogramm Mehl vorgeschrieben sind: 500 Gramm Butter oder Butterschmalz, 650 Gramm Rosinen oder Sultaninen, 200 Gramm Zitronat und Orangeat, 150 Gramm süße und bittere Mandeln. Die meisten Test-Striezel wiegen vier Pfund, ab diesem Gewicht ist das Verhältnis zwischen Kruste und Krume optimal.

Vor dem Gang zum Labor beurteilen die Prüfer Aussehen, Konsistenz und Geschmack. Klebt am Boden Puderzucker: Punktabzug. Sind die Rosinen nicht schön gleichmäßig verteilt: Punktabzug. Wirkt das Gebäck am Gaumen zu feucht oder zu trocken: Punktabzug. Bei einer Pleite gewährt der Verband jedoch eine zweite Chance. Und die wird meist genutzt.

Wo kauft Bernatzky seine Stollen? Bei der Bäckerei Maaß, einem kleinen Handwerksbetrieb, der bei den Tests bislang immer um die 19,5 Punkte einheimste (20 wurden noch nie vergeben). Die Adresse findet sich im Nordwesten Dresdens, im Arbeiterviertel Pieschen.

Silke Zimny, die 40-jährige Inhaberin, bittet mich in die Backstube. Dort arbeiten drei Bäcker und eine 33 Jahre alte, türkisfarbene Teigknetmaschine, hergestellt vom „VEB Hubtischbau“. Deren Arm vermengt momentan einen vor 45 Minuten angesetzten Vorteig mit den übrigen Zutaten, mit Mehl, Mandeln, Zitronat, Orangeat, fein gerieben Mandeln und geheim gehaltenen Gewürzen.

Was macht den Maaß-Striezel, der auch beim Dresdner Slow-Food-Stollentest als einziger mit „sehr gut“ abschnitt, so besonders? Frau Zimny sagt, es sei die Qualität der Zutaten und „die Liebe zum Handwerk“. So werden bei ihr alle Rosinen von Hand verlesen. Danach geht’s ab in ein 54-prozentiges „Jamaica Rum“-Bad, wo sich die Trockenfrüchte über Nacht vollsaugen. Tags darauf werden sie dann äußerst sanft zum Teig gegeben, damit sie nicht platzen und das Innenleben des Stollens um Nuancen dunkler machen.

Frau Zimny hat alle Schritte ihrer Stollenproduktion akribisch aufgeschrieben. Das Werk umfasst drei eng bedruckte DIN-A4-Seiten, kann daher aus Platzgründen leider nicht abgedruckt werden. Zum Backvorgang nur so viel: „Der Ofen sollte ,ausgeruht’ sein, also nicht so viel Unterhitze haben. Sonst wird der Stollen unten zu schnell dunkel. Wir schieben unsere Stollen bei 140°C und steigender Hitze in den Ofen. Während des Backens heizen wir auf 180°C hoch. Bei dieser Temperatur backen die Stollen etwa 50 Minuten. Für die letzten zehn Minuten reduzieren wir die Hitze wieder auf 150°C ...“

Wie lange dauert es, bis ein Laie den Eins-a-Stollen backen kann? Frau Zimny wiegt den Kopf: „Zwei, drei Weihnachten, unter Anleitung. Und Vorsicht: Bricht ein Stollen, stirbt ein Verwandter – alte Bäckerregel.“ Auch früher schon ließen Dresdner Hausfrauen lieber ihre Finger vom Stollenbacken. Die Zutaten zum Weihnachtsgebäck transportierten sie mit dem Handkarren oder dem Schlitten zu ihrem „Hausbäcker“. Frau Zimny erinnert sich noch gut an jene Zeiten, als ihre Eltern Stollen für das ganze Viertel zubereiteten: „Die Frauen achteten mit Argusaugen darauf, dass nur ihre eigenen Ingredienzien verwendet wurden.“ Schließlich waren in der DDR Orangeat und Zitronat Mangelware. Viele ersetzten die gezuckerten Zitrusfrüchte durch kandiertes Gemüse, Möhren oder grüne Tomaten. „Kandinat“ hieß das.

Am nächsten Tag probiere ich mich quer durch die Stadt. Und nirgendwo wird mir minderwertiger Striezel kredenzt. Auf meiner Favoritenliste finden sich jetzt – neben dem Maaß-Stollen – die Produkte der 1825 gegründeten „Conditorei Kreutzkamm“ und des Fünf-Sterne-Hotels „Bülow Palais“. Von den größten Anbietern, die ihre Stollen überwiegend maschinell produzieren, gefällt mir „Dr. Quendt“: glatte 18,75 Punkte.

Dass die Elbmetropole auf so hohem Niveau backt, mag auch am Konkurrenzdruck liegen. Bundesweit rangiert Dresden mit seiner Dichte an mittelständischen Bäckereien und Konditoreien an vorderster Stelle. Das „Backjournal“ attestiert den Backwaren der Stadt seit Jahren eine „überragende Qualität“.

Klar, dass sich hier der Superstar der Zunft findet. René Krause, 36, ist amtierender Brotweltmeister und Erster Deutscher Meister der Bäckermeister, gewählt vom „Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks“.

Natürlich versucht Krause, sieben Filialen, 45 Mitarbeiter, darunter 15 Bäcker, den besten Dresdner Stollen der Welt zu backen. Vergangenes Jahr wurde sein Produkt mit 19,87 Punkten bewertet. Gibt es ein Geheimnis, das Striezel zu Siegertypen macht? Ja, sagt Krause, ein offenes: „Sie sollten mindestens zwei Wochen unter optimalen Bedingungen lagern.“ Nur so könnten sich alle Gewürze richtig entfalten und harmonisch mit dem Teig verschmelzen. Krause selbst lässt seine Stollen sechs Wochen bei 2,5 Grad und 60 Prozent Luftfeuchtigkeit reifen. Ich nehme einen seiner Vierpfünder mit. Er ist jetzt der vierte Stollen in meinem Trolley.

Nach Hause zurückgekehrt, dürfen meine Gäste probieren – und bewerten. Nach einer halben Stunde steht der Sieger fest. Auf Platz eins: René Krause – 0,1 Punkte vor Silke Zimny (Bäckerei Maaß).

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