zum Hauptinhalt

Gesellschaft: Très ch’ti

Von wegen Essen wie Gott in Frankreich! Marmelade aus Chicorée, Bier aus Rhabarber und bestialisch stinkender Käse... Jetzt macht ein Film die Leckereien weltberühmt.

Ihm hätte nichts Schlimmeres widerfahren können. Philippe, ein Postbeamter aus der Provence, wird strafversetzt: in den Norden, und zwar dorthin, wo dieser am tiefsten ist. Wo Menschen leben – oder sollte man sie Barbaren nennen –, deren Sprache klingt, als bestünde sie aus einem einzigen großen Sch. Sie hängen schon morgens an der Flasche und schmieren sich zum Frühstück stinkenden Käse aufs Graubrot, dann tunken sie die Stulle genüsslich in den Kaffee, genauer gesagt: in Muckefuck.

Willkommen bei den Sch’tis.

„Bienvenue chez les Ch’tis“, so heißt die Komödie, die in Frankreich Anfang des Jahres in nur sechs Wochen zum meistgesehenen Film aller Zeiten avancierte, mit mehr als 20 Millionen Besuchern. Nächste Woche kommt der Film nun auch in die deutschen Kinos. Regisseur Dany Boon ist selber ein Sch’ti (so rief man ursprünglich die Einheimischen wegen ihres Dialekts, der nordromanischen Mundart Chtimi), ist im Norden geboren und aufgewachsen. Er jongliert mit den Vorurteilen über seine Landsleute, die beim Rest der Franzosen tief sitzen. Zugleich traf Boons Film einen anderen Nerv: die Sehnsucht nach dem einfachen Leben in Zeiten der wirtschaftlichen Krise.

Und er machte den Norden schlagartig sexy. Jetzt strömen Touristen in Bussen nach Bergues, wo gedreht wurde, und in den gesamten Norden. Selbst der teuflisch riechende Käse Maroilles, der nur noch „fromage ch’ti“ heißt, ist nun in ganz Frankreich en vogue. „Ah, was für ein Zigeuneressen“, stöhnt zu Beginn des Films noch der Ratatouille-verwöhnte Südfranzose, als ihn seine neuen Kollegen mittags zur Frittenbude schleppen. Und plötzlich reden alle vom Essen und Trinken wie Gott in Nordfrankreich. Nord Pas de Calais steht exemplarisch für die einfache Küche: Kräuter, Chicorée, Blumenkohl, Käse, Bier. Wer das raffiniert zubereitet, hat Chancen auf einen Stern.

Nord Pas de Calais galt lange als das Stiefkind der Franzosen, es hieß früher, die Gegend durchquere man, aber man halte sich dort nicht auf. Doch Schriftsteller zog die Region magisch an. Victor Hugo hat im einstigen Kohlenpott Frankreichs einige Passagen seines Werks „Les Miserables“ verfasst. Auch Emile Zola trieb es ins Bergbau-Gebiet: Monatelang lebte und arbeitete er zusammen mit den Bergleuten, bis er in „Germinal“ die rauen Sitten der Arbeiter beschrieb. In den 60er Jahren begann das Sterben der Minen: Sie wurden unrentabel und nach und nach geschlossen.

Und nun: Selbst die Waffeln aus Bergues, die schon George Simenon an einem wolkenverhangenen Vormittag zum hochprozentigen Wacholderschnaps aß, was dazu führte, dass er seinen Maigret erfand, werden jetzt „Ch’ti gaufrette“ genannt. „Wer reden will, wie ein echter Sch’ti, muss unseren Schnaps trinken“, erklärt Hugues Persyn, Inhaber der Genever-Brennerei im verschlafenen Örtchen Houlle. Der hochprozentige Wacholderschnaps aus Hafer, Gerste und Roggen wird nur noch in Nord Pas de Calais hergestellt. Genever wurde zunächst für medizinische Zwecke verwandt, bis er ab dem 16. Jahrhundert offiziell verkauft wurde. Erst nach der französischen Revolution gelangte der Wacholderschnaps in den Norden. Die Wacholderbeeren, die ihm sein typisches Aroma verleihen, werden erst in der Destillationsphase hinzugegeben. Von den 70 Destillerien im Jahre 1850 sind heute noch zwei übrig. Die beliebteste Sorte der Houlle-Brennerei, „Carte Noir“, hat einen Alkoholgehalt von 49 Prozent.

Traditionell wird der Genever hier in den Kaffee gemischt, für einen „bistoul“ ist immer Zeit, sagt man hier. In einer Filmszene sieht man den einheimischen Postbeamten auf seiner morgendlichen Rundfahrt – wo er auch klingelt und Briefe abliefert, bittet man ihn auf einen „bistoul“, einen Aperitif, oder einen „kleinen Gelben“, wie sie den Pastis nennen, herein. Da kann er gar nicht nein sagen. Später sitzt er hackedicht am Schalter.

In einem Schloss in der Nähe empfängt Michel Théret, in blauer Tracht, mit der ovalen Kochmütze aus Papier, dem grauen Zwirbelbart und der preußischen, von schweren Abzeichen heruntergezogenen Jacke. Wie eine Romanfigur bei Balzac. Der 72-Jährige ist der Maître der Bruderschaft der Chicoréebauern, Ritter der Ehrenlegion. Nach dem Film, den er sich mehrmals angeschaut hat, hat er gleich ein neues Produkt entworfen, „le Chticon“, ruft er pathetisch, mit ausschweifender Armbewegung. Das sind fünf Säckchen mit je fünf verschiedenen Sorten Chicorée, die er schon mehrmals im Fernsehen präsentiert hat. „Perle des Nordens“ wird das vitaminreiche Gemüse hier genannt. Als Théret noch ein großes Restaurant besaß, hat er 27 verschiedene Sorten Chicorée-Marmelade komponiert. „Im Norden machen wir alles mit Chicorée, auch den Kaffee und das Bier“, ruft er stolz. Jedes Jahr reist Théret etwa 35 000 Kilometer durchs Land und besucht Schulklassen: „Weil Kinder eigentlich keinen Chicorée mögen, koche ich mit ihnen.“

In Arras, der früheren Handelsmetropole, sind die Häuserfassaden tadellos erhalten, das Blasse der ehemaligen Kohlegebiete weit weg. Im Käseladen am großen Marktplatz liegen die kräftig riechenden Sorten gemeinsam in einer Reihe hinter der Vitrine: Munster, Boulette d’ avesnes, Dauphin aus dem Avesnois, vieux de Lille. Einer fehlt. „Maroilles ist aus“, erklärt die rundliche Verkäuferin. „Seit dem Film will ihn jeder.“ Die zehn hier ansässigen Produzenten kommen nicht hinterher, seit vor allem englische Touristen extra aus Dover anreisen, den Käse kaufen und abends die Fähre zurück nehmen. Maroilles muss über Monate gelagert und öfter gebürstet werden, um das für ihn typische Aussehen und den eigenen Geschmack zu bekommen. Und die kleinen Höfe des Dorfes Maroille haben nicht plötzlich mehr Kühe, als vorher.

„Atmen Sie durch den Mund, das sorgt für Durchzug“, rät der Einheimische nach der Käseverkostung im Film. Der quadratische Weichkäse mit Rotschmiere (den es in Berlin im KaDeWe und im Lafayette gibt) stammt ursprünglich aus Thiérache, nahe der belgischen Grenze. Mönche hatten im 10. Jahrhundert den Rohmilchteig in einen Felsenkeller kühl stellen wollen, vergaßen ihn und fanden ihn nach dieser ungewollten Reifung deutlich verbessert vor. Sie tauften ihn „Schatz von Maroille“, nach dem gleichnamigen antiken Dorf. Der extrem stinkende, aber mild im Mund schmelzende Käse war bei Königen schnell heiß begehrt. Nun giert das Volk danach.

„Aber die Stulle morgens in Kaffee eintauchen, das machen wir hier nicht“, ruft mir die Verkäuferin noch nach und verzieht angeekelt ihren Mund.

„Ich tue das morgens gern“, erklärt Sylviane Dervillers, eine adrette Mittfünfzigerin. Sie hat, ein paar Straßen weiter, ihren eigenen Spezialitätenladen eröffnet. „Das war vor zwei Jahren, also vor dem Film“, sagt sie energisch, als wolle sie sich rechtfertigen. Überall, an den Wänden und in Regalen, hängen große Filmplakate, darunter hat sie werbewirksam ihre Produkte platziert: Sch’ti-Bier in allen Farben und Geschmacksrichtungen, hell und dunkel. „Die Leute kommen herein, sehen das Plakat, denken an den Film und kaufen wie die Wilden“, sagt Madame Dervillers.

Nord Pas de Calais ist eine Bierregion, früher hatte jedes Dorf eine eigene Brauerei. „Nach dem Film wurden viele neue Biersorten entworfen, mit Rhabarber, mit Honig oder Chicorée-Geschmack.“. Sie zeigt auf ein von ihr selber gestaltetes Etikett auf der Flasche: „Hé, biloute, t’es d’min coin“? – „Hey, Zipfel, stammst du aus meiner Gegend?“, wie Nordfranzosen sich untereinander grüßen.

Im gegenüberliegenden Regal thronen regionale Delikatessen wie das „Pot’je Vleech“, am flämischen Namen spürt man die geografische Nähe. Das Pasteten-Gelée im Topf besteht aus Kaninchen, Huhn und Kalb, das hier gern mit hausgemachten Pommes Frites gegessen wird. Auch Carbonade, das flämische Gulasch, ist bei Sylviane Dervilliers zu haben. Zum Abschied rät sie, mal ein Stück Maroilles-Käse mit süßem Sirop de Liège zu bestreichen, einem Pflaumenmus.

Wer durch die labyrinthartige Moorlandschaft von Audomarois schippert, begegnet bald einem Mann mit Baskenmütze, faltigem Gesicht und Lausbubenlächeln: Joseph Hau. Tagein, tagaus, seit mehr als 40 Jahren, hockt der 84-Jährige am Ufer, vor seinem Gemüsestand. Er hält einen fetten Blumenkohl in der Hand und bietet ihn denen an, die auf Booten an ihm vorbeifahren.

Sieben Millionen Köpfe wachsen in der Gegend um Saint Omer, der „Hauptstadt des Blumenkohls“, kurz vor Dünkirchen gelegen. Ein Teil davon gedeiht im Garten von Joseph Hau. „Oh, Sie müssten meine Potage chou-fleur probieren“, sagt er mit rissiger Stimme, er hört gar nicht mehr auf zu reden, von Blumenkohlsuppe und wie er dieses Jahr sein Feld beackert habe.

Solch ein Suppe kommt im Film nicht vor. Immerhin schafft es Philippe, der Postbote aus dem Süden, im Restaurant Chicorée und Maroilles in reinstem Ch’ti zu bestellen. „Bravo, Biloute: Bravo Zipfel“, loben die einheimischen Kollegen. Der Kellner guckt irritiert. Er sei aus Paris und verstehe kein Wort.

Maxi Leinkauf

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false