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Grand Prix

© AFP

Eurovision Song Contest: Liebe, Glaube, Amselfeld

Jelena Tomasevic singt beim "Eurovision Song Contest" für Gastgeber Serbien ein Volkslied mit Herz-Schmerz-Rhetorik. Der Beitrag weckt Nationalgefühle – nach dem Verlust des Kosovo.

An diesem Samstagabend wird die serbische Hauptstadt Belgrad für einige Stunden zum pulsierenden Herzen Europas. Als Gastgeber des „Eurovision Song Contest 2008“ will sich Serbien als offenes europäisches Land präsentieren – allen politischen Unwägbarkeiten zum Trotz, mit denen der Staat vor allem seit der Unabhängigkeitserklärung Kosovos im Februar zu kämpfen hat.

Die vorgezogenen Neuwahlen zum serbischen Parlament vor zwei Wochen haben noch einmal gezeigt, wie tief gespalten die serbische Gesellschaft ist – in jene, die das Land möglichst schnell in der EU sehen wollen und die anderen, die für Serbien den Alleingang und die engere Anlehnung an Russland bevorzugen. Doch in einem Punkt sind sich fast alle Serbinnen und Serben einig: die einseitige Unabhängigkeitserklärung Kosovos und die völkerrechtliche Anerkennung durch mittlerweile 40 Staaten der Welt – vor allem europäische – ist nicht in Ordnung. Für sie ist und bleibt das Kosovo ein Teil Serbiens.

Über Politik will Jelena Tomasevic nicht reden. Dafür über serbische Traditionen, über ihr Lied und über ihre Stimme – tief, voll und rund. Die 24-Jährige repräsentiert das Gastgeberland Serbien bei diesem 53. „Eurovision Song Contest“. Seit Jelena sieben Jahre alt ist, gibt es für sie fast nur noch die Musik. Sie gewann schon als Kind verschiedene Talentwettbewerbe, trat bei unzähligen Festivals auf. Jelena stammt aus Kragujevac, der fünfgrößten serbischen Stadt, ziemlich genau in der Mitte des Landes gelegen.

Jelena Tomasevic singt an diesem Samstagabend die Ballade „Oro“, ein trauriges Liebeslied, benannt nach einem im ganzen Balkan weit verbreiteten Volkstanz. Beim Oro tanzen Männer und Frauen, Alt und Jung, gemeinsam und mit einfachen Schritten im Kreis. Zwischen den beiden Strophen von „Oro“ erklingt die Frula, eine traditionell-serbische Blockflöte, und führt die Eurovision-Zuhörer tief hinein ins Innerste der serbischen Volksmusik. Auch der Text der Ballade, der auf den ersten Blick die Herz-Schmerz-Rhetorik eines beliebigen Liebesliedes aufzunehmen scheint, gründet auf uralten serbischen Legenden und dem auf dem im Balkan so stark verwurzelten Volksglauben.

In Jelena Tomasevics Lied geht es um ein unglückliches und für immer von ihrem Liebsten getrenntes Mädchen, das sich nichts sehnlicher wünscht, als ihn am Sankt-Veits-Tag, serbisch „Vidovdan“, nochmals zu sehen – im Traum, um ihn so doch noch heiraten zu können: „Am Vidovdan, weck mich auf, damit ich ihn wieder sehe. Am Vidovdan, weck mich auf, damit ich ihn noch ein Mal sehe.“

Der „Vidovdan“ ist einer der wichtigsten Heiligen-Gedenktage in der serbisch-orthodoxen Kirche, begangen am 28. Juni. Unzählige Geschichten ranken sich um den Tag. „Gemäß der Legende wird ein Mädchen jenen Mann heiraten, von dem es am Vidovdan träumt“, erinnert sich Jelena an die Legende, die ihre Großeltern ihr als Kind erzählt hatten. „Es gibt auch eine kleine weiße Blume bei uns, die Vidovicica. Diese soll man sich unters Kopfkissen legen, wenn man schlafen geht. Das hilft, um am Vidovdan vom künftigen Ehemann zu träumen.“

Fast jedes Kind und noch viel mehr die ältere Generation in Serbien kennt die Legenden rund um den „Vidovdan“. Doch es sind nicht nur diese Überlieferungen, die die Serbinnen und Serben mit dem Tag in Verbindung bringen. Ebenso sind es Ereignisse im Laufe der serbischen Geschichte, die sich an einem „Vidovdan“ zugetragen und tief in die historische Erinnerung eingegraben haben. Am bedeutendsten ist die Schlacht auf dem Amselfeld, dem „Kosovo polje“, unweit der heutigen kosovarischen Hauptstadt Pristina. Am 28. Juni 1389 wurde dort das serbische Heer unter Fürst Lazar von den Truppen des osmanischen Sultans Murat I. vernichtend geschlagen. Als Symbol für Opferbereitschaft Serbiens zur Verteidigung der christlichen Werte gegen den Islam hat die Schlacht auf dem Amselfeld bis heute einen festen Platz in der serbischen Geschichtsschreibung und Mythologie. Es war ebenfalls ein „Vidovdan“, an dem der Serbe Gavrilo Princip 1914 in Sarajevo den österreichischen Thronfolger Franz-Ferdinand ermordete, was den Ersten Weltkrieg auslöste.

Jelena Tomasevic hat in ihrer Heimatstadt Kragujevac nach dem Abitur ein Englischstudium begonnen, ihre Sprachkenntnisse sind ausgezeichnet. Auch die Geschichte ihrer Heimat kennt sie – und sie weiß, dass der „Vidovdan“ dabei immer wieder von Bedeutung war. „Es gab so viele Ereignisse in der Geschichte an diesem Tag. Aber in meinem Lied geht es nur um die Legende mit dem Traum am Vidovdan.“ Nach ihrem Sieg bei der serbischen Vorausscheidung zum „Eurovision Song Contest“ vom 10. März – nicht einmal einen Monat nach der Unabhängigkeitserklärung Kosovos – hatten in- und ausländische Kritiker Jelena vorgeworfen, durch die Erwähnung des Wortes „Vidovdan“ bewusst eine Verbindung zum Kosovo und den damit verbundenen Emotionen im Land konstruiert zu haben.

Doch die Sängerin will nichts davon wissen, dass der „Vidovdan“ in ihrem Lied eine Anspielung auf das Kosovo sei. „Ich bin sehr traurig darüber, dass unsere Leute im Kosovo leiden, und ich bin sehr traurig, dass dies unserem Land zugestoßen ist“, sagt sie. Tatsächlich wäre es zu weit gegriffen, den „Vidovdan“ als eine versteckte Botschaft an Europa zur Verteidigung des Kosovo oder gar als nationalistische Gesinnung von Jelena Tomasevic und ihrem Team zu deuten, wie es einige westeuropäische Medien taten. Dies zeigt nur schon die Tatsache, dass Jelenas erste PR-Tour für „Oro“ in das vor allem von Muslimen bewohnte bosnisch-herzegowinische Sarajevo führte, ins Land des einstigen Kriegsgegners. Nationalisten würden bestimmt nicht so handeln. Jelena Tomasevic will wohl vor allem eins: Erfolg und Karriere in der Musikbranche.

Norbert Rütsche[Sarajevo]

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