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Update

Flüchtlingsdrama vor Lampedusa: "Sie hören nicht auf, neue Leichen zu bringen"

Nach dem Flüchtlingsunglück vor der italienischen Insel Lampedusa wurden weitere 40 Menschen tot geborgen. Damit steigt die Opferzahl auf mindestens 133. Viele Passagiere des gekenterten Bootes werden weiterhin vermisst.

Im Hafen vom Lampedusa reihen sich grüne, blaue und schwarze Leichensäcke aneinander. Helfer bringen immer neue Opfer, wenige Meter entfernt werden entkräftete Überlebende an Land geführt. „Es ist ein Horror“, sagt Lampedusas Bürgermeisterin Giusi Nicolini unter Tränen. „Sie bringen immer weitere Leichen.“ Auf der sizilianischen Insel herrschen Fassungslosigkeit und Trauer. Mindestens 133 Menschen sind bei einer der schlimmsten Flüchtlingstragödien in den vergangenen Jahren vor Lampedusas Küste ums Leben gekommen, als ihr Schiff Feuer fing und kenterte.

„In vielen Jahren der Arbeit hier habe ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen“, sagt der Arzt Pietro Bartolo der Nachrichtenagentur Ansa. Er will helfen, kann jedoch für Opfer nichts mehr tun. „Unglücklicherweise brauchen wir keine Krankenwagen mehr, sondern Särge.“ Dutzende Tote, darunter auch Kinder, und Hunderte Vermisste - das ist die Bilanz der Katastrophe, die am Donnerstag Italien erschütterte.

Bei der jüngsten Tragödie spielen sich dramatische Szenen ab: Das Boot ist mit mehr als 500 Menschen völlig überfüllt. Kurz vor der Küste hat es einen Defekt und kann nicht weiterfahren. Um auf sich aufmerksam zu machen, entzünden die Flüchtlinge eine Decke. Doch das Feuer gerät außer Kontrolle. Auf dem Boot bricht Panik aus, es kentert. Hunderte Menschen stürzen ins Meer, viele der Migranten aus Eritrea ertrinken. „Sie konnten nicht schwimmen, sie wussten nicht wohin“, sagt Italiens Außenministerin Emma Bonino. Den Tod der Migranten sei eine “endlose Tragödie“.

Bis zu 250 Menschen würden noch vermisst, teilte die Küstenwache am Donnerstagnachmittag mit. Die Zahl der Geretteten wurde zunächst mit 151 angegeben. Dem UN-Flüchtlingshilfswerk zufolge waren alle Passagiere Eritreer, die in Libyen an Bord gegangen waren.

Papst Franziskus: Eine Schande

Papst Franziskus, der im Juli bei einem Besuch auf Lampedusa die Gleichgültigkeit gegenüber Flüchtlingen kritisiert hatte, sprach im Vatikan von einer „Schande“ und rief per Twitter zu Gebeten für die Opfer und Angehörigen auf. Die Justiz leitete Ermittlungen wegen des Verdachts auf mehrfachen Mord sowie die Organisation illegaler Einwanderung ein.

Fischerboote hatten am frühen Morgen den Alarm gegeben, woraufhin Küstenwache und Zoll erste Schiffe entsandten. Auch mehrere Hubschrauber waren im Einsatz. Als erstes seien Touristenboote an der Unglücksstelle eingetroffen, sagte Antonio Cancela, ein Mitarbeiter der Rettungskräfte. „Die Menschen sind seit den frühen Morgenstunden im Wasser“, sagte Bürgermeisterin Nicolini. Die Leichen wurden in einen Flughafenhangar auf Lampedusa gebracht, weil es so viele waren.

22.000 Bootsflüchtlinge in diesem Jahr

Wegen des guten Wetters versuchen zur Zeit besonders viele Flüchtlinge, die meisten von ihnen aus Krisenstaaten wie Ägypten und Syrien, in kaum seetauglichen Booten von Afrika über das Meer nach Lampedusa und Sizilien zu gelangen. Insgesamt wurden seit Jahresbeginn in Italien mehr als 22.000 Bootsflüchtlinge gezählt - drei mal mehr als im gesamten Jahr 2012.

Es ist das zweite Drama innerhalb weniger Tage. Erst am Montag waren 13 Einwanderer aus Ägypten ertrunken, als ihr Schiff vor der Küste Siziliens unterging. Im August waren ebenfalls vor der Küste Siziliens sechs junge Ägypter ertrunken. „Wir müssen etwas Konkretes unternehmen, um diese permanenten Verzweiflungstragödien zu verhindern“, sagte der italienische Erzbischof Francesco Montenegro.

Jedes Jahr machen sich tausende verzweifelte Flüchtlinge in überfüllten Booten auf den Weg von Afrika nach Italien. Die meisten von ihnen stranden in Lampedusa rund 110 Kilometer vor der tunesischen Küste. Auf der 380 Hektar großen Insel leben normalerweise rund 6000 Menschen. Die Zahl der Zuwanderer übersteigt die Zahl der regulären Einwohner regelmäßig um ein Vielfaches.

Seit der Zunahme der Gewalt in Syrien und Ägypten nutzt eine Vielzahl an Flüchtlingen das gute Wetter, um auf oft kaum seetauglichen Booten die gefährliche Überfahrt nach Lampedusa und Sizilien zu versuchen.

Brüssel fordert mehr Anstrengungen der EU

In einer ersten Reaktion hat EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström mehr gemeinsame Anstrengungen der Europäischen Union in der Einwanderungspolitik gefordert. „Wir müssen unsere Anstrengungen verdoppeln im Kampf gegen Schleuser, die menschliche Hoffnungslosigkeit ausbeuten“, teilte Malmström am Donnerstag über den Kurznachrichtendienst Twitter mit. Sie forderte einen besseren Schutz von Migranten-Rechten und mehr legale Möglichkeiten für Flüchtlinge, nach Europa zu kommen.

„Ich bin erschüttert von der Lampedusa-Tragödie“, erklärte Malmström während eines New-York-Aufenthalts. Neben einem verschärften Kampf gegen kriminelle Schleuserorganisationen etwa durch eine bessere Überwachung des Mittelmeers, müsse die EU mit den Herkunfts- und Transitländern der Flüchtlinge besser kooperieren, um mehr legale Möglichkeiten zur Einwanderung nach Europa zu schaffen, fügte der Sprecher der Innenkommissarin in Brüssel hinzu. „Aber dafür brauchen wir die Unterstützung der Mitgliedstaaten.“ Malmströms Sprecher forderte zudem einen verstärkten Einsatz für die Aufnahme von hilfsbedürftigen Flüchtlingen in Europa: „Wir machen nicht genug.“ Die Flüchtlinge setzen oft ihr Leben aufs Spiel, um in kleinen unsicheren Booten über das Mittelmeer in die EU zu kommen. „Wir hoffen, dass alle Mitgliedstaaten Solidarität zeigen und verstehen, dass die Zeit gekommen ist, eine stimmige Einwanderungs- und Asylpolitik zu definieren und umzusetzen.“ Was Flüchtlinge aus Syrien angeht, sieht die EU-Kommission demnach aber im Moment keinen dringenden Handlungsbedarf. „Bislang sind die Ströme und der Druck noch handhabbar aus der Sicht der Europäischen Union“, sagte der Malmström-Sprecher angesichts von rund 50.000 Asylanträgen von Syrern seit Beginn des Konflikts in ihrem Heimatland vor mehr als zwei Jahren. Die Situation könne sich jedoch verschlimmern.

Der Umgang mit Flüchtlingen aus Syrien steht auf der Tagesordnung eines Treffens der EU-Innenminister am kommenden Dienstag in Luxemburg. (AFP/dpa/Reuters)

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