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In Port-au-Prince verwüstete „Matthew“ 90 Prozent aller Häuser und Hütten, die Schulen, den Friedhof und die beiden Kirchen.

© REUTERS

Folgen des Hurrikan "Matthew": Nach der Apokalypse

Haiti ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre – und hier wütete Hurrikan „Matthew“ besonders. Viele stehen vor dem Nichts. Ein Besuch im fast komplett zerstörten Port-à-Piment.

"Sèl Jezi" (Nur Jesus) hatte der Fischer auf sein Boot geschrieben, das jetzt zerstört am Strand liegt. Er und seine Familie überlebten die apokalyptische Nacht in Haiti vom 3. auf den 4. Oktober nur, weil sie auf den Rat seines Schwagers hörten, der von Port-au-Prince aus per Handy unablässig gefordert hatte, sich in Sicherheit zu bringen. Am Ende retteten die Mauerreste einer vom Hurrikan "Matthew" schwer beschädigten Kirche sie und viele andere Familien. "Wir haben die ganze Nacht gezittert und geweint", sagt die elfjährige Noela. "Alle dachten, dass wir jetzt sterben müssten. Die Nacht, der Sturm und der Regen hörten einfach nicht mehr auf."

Als es am 4. Oktober dämmerte, war von ihrer Welt nichts mehr übrig. Keine der Fischerhütten stand mehr, kein Baum, kein Haustier, kein Vogel hatte überlebt, die Boote waren am Strand zerschellt. Seit 1964 wurden die Menschen in Haiti nicht mehr von einem derart verheerenden Wirbelsturm heimgesucht.

Port-à-Piment an der Südküste der Tiburon-Halbinsel ist zusammen mit der etwas weiter nördlich gelegenen Stadt Jérémie so etwas wie das Epizentrum dieser Katastrophe. Über Port-à-Piment zog das Auge des Hurrikans mit quälend langsamen sieben Stundenkilometern. Hier verwüstete "Matthew" 90 Prozent aller Häuser und Hütten, die Schulen, den Friedhof und die Kirchen. Meterhohe Wellen zerfetzten regelrecht die Gebäude, die am nächsten am Strand standen.

Viele stehen nach dem Wirbelsturm auf Haiti vor dem Nichts wie diese Frau in Port-à-Piment.
Viele stehen nach dem Wirbelsturm auf Haiti vor dem Nichts wie diese Frau in Port-à-Piment.

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Noch gibt es keine Klarheit darüber, wie viele Menschen bei dieser Katastrophe ums Leben kamen. Haitis Übergangsregierung versucht, die Zahlen möglichst niedrig zu halten, spricht von 450 Opfern. Unabhängige Journalisten, die alle Bürgermeister des Landes telefonisch befragt haben, kommen – ähnlich wie verschiedene UN-Organisationen – auf mehr als 1000 Tote. Keinen Dissens gibt es darüber, dass an der Südküste des Landes mindestens 30.000 Häuser und Hütten zerstört wurden – und insgesamt mehr als 1,4 Millionen Menschen von den Folgen des Wirbelsturms betroffen sind. Und das in einem Land, das als das ärmste der westlichen Hemisphäre gilt. Drei Viertel der Bevölkerung leben von weniger als zwei US-Dollar am Tag. Die extreme Armut und eine nur schlecht ausgebaute Infrastruktur machen das Land besonders verletzlich bei Naturkatastrophen wie jetzt dem Hurrikan "Matthew".

Auch Port-à-Piment war auch vor dieser entsetzlichen Hurrikan-Nacht immer schon ein bescheidener Ort gewesen, mit kleinen, im kreolischen Stil gebauten Häusern, zwei Kirchen, vielen Bäumen und einem wunderschönen, palmengesäumten Strand. Die 35.000 Einwohner lebten vom Fischfang, Landwirtschaft und ein bisschen Handwerk. Nach dem Hurrikan "Ike" 2008 hatte die Kindernothilfe in Port-à-Piment den Bau von sieben Tiefbrunnen finanziert. Fünf von ihnen überstanden die Katastrophe ohne Beschädigungen. Über sie versorgen sich die Menschen mit Trinkwasser. In der schwülen Hitze bei tagsüber 31 Grad Celsius ist der Zugang zu sauberem Wasser überlebensnotwendig. Denn die Cholera bedroht auch in Port-à-Piment vor allem die Kinder und die Alten. 62 Infektionsfälle hat die Leitung des kleinen Krankenhauses seit dem Hurrikan registriert.

62 Cholera-Fälle wurden bereits registriert. Betroffen sind meist Kinder und ältere Menschen.
62 Cholera-Fälle wurden bereits registriert. Betroffen sind meist Kinder und ältere Menschen.

© REUTERS

Zu den schmerzhaftesten Lücken, die Hurrikan "Matthew" riss, gehört die Berufsschule von Port-à-Piment, mit der die Kindernothilfe seit dem Erdbeben 2010 zusammenarbeitete. 80 junge Frauen und Männer wurden hier pro Jahrgang als Schneiderinnen, Schreiner, Schlosser, Elektriker und Flaschner ausgebildet. Das komplette Schulgebäude, mit allen Werkräumen und einem Großteil seiner Ausstattung ist jetzt nur noch eine Ruine. Inmitten des Chaos und der Verwüstung arbeiten zwei der Schreinerlehrer. Sie haben eine der Werkbänke gerettet und zimmern jetzt einen Sarg. Bestimmt ist er für einen Nachbarn, der in der Hurrikan-Nacht einige seiner Tiere von einem Feld retten wollte, dann aber selbst vom Wind erfasst und schwer verletzt wurde. Acht Tage nach der Katastrophe ist er gestorben.

Ständig kommen ehemalige Schüler der Schule auf das Areal und bestürmen Reinhard Schaller, den langjährigen Leiter des Projektes und Fachlehrer für Schweißen, möglichst schnell mit dem Wiederaufbau der Berufsschule zu beginnen. Mehrere Lehrer und Schüler packen einfach sofort an, beginnen mit den Aufräumarbeiten, beseitigen mit bloßen Händen Mauerreste, Wellblechplatten und Schutt. Auf einem Teil des Ruinengeländes soll in zwei Tagen ein Kinderzentrum eröffnet werden. In 800 Meter Entfernung, im Schatten der schwer beschädigten Kirche, gibt es bereits ein derartiges Kinderzentrum, insgesamt sind vier solcher Einrichtungen in Port-à-Piment geplant.

Und es gibt Geschichten in Port-à-Piment, die kaum zu glauben sind: So wie die von einer Familie aus einem der Bergdörfer, in dem der Vater mit seiner Frau und den Kindern aus der eingestürzten Hütte vor dem Sturm fliehen wollte und dann miterleben musste, wie ihm der Hurrikan sein einjähriges Töchterchen aus dem Arm riss und durch die Luft schleuderte. Alle verzweifelten Versuche, das Kind zu finden, waren vergeblich. Erst nach zwei Tagen entdeckten Nachbarn das Mädchen schließlich unter umgerissenen Bäumen und Gestrüpp – weitestgehend unverletzt.

Der Autor ist bei der Kindernothilfe Referatsleiter für Lateinamerika/Karibik und direkt nach dem Hurrikan nach Haiti geflogen. Das evangelische Hilfswerk engagiert sich seit 1959 in inzwischen 31 Ländern für Mädchen und Jungen.

Jürgen Schübelin

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