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Frauen und Männer: Verwaiste Eltern

Wenn ein Kind stirbt, ist das für Eltern und Geschwister die größte Katastrophe. Aufstehen oder liegen bleiben, essen oder nicht – alles wird bedeutungslos. Die Trauer nimmt Familien das Gleichgewicht

Seinen Kuschelesel hatte Felix noch eingepackt, dann war er mit seinen Eltern losgegangen zum Reisebus. Umarmungen, Küsse, auch für den kleinen Bruder Philipp, der weinte, weil er immer dahin wollte, wohin der ältere ging. Und an diesem Tag fuhr Felix, zehn Jahre, ohne ihn auf den Reiterhof. Noch mehr als auf die Pferde freute sich Felix vielleicht auf eine der Betreuerinnen. Die war schon 18 und so nett. Und so setzten die Luthers ein strahlendes Kind in den Bus – und sahen es nie wieder.

Am 30. Juli 1999 ist Felix Luther gestorben. Mit Kutschen waren die Betreuer und Kinder in den Wald gefahren, Felix tat, was kleine Jungen am liebsten tun, er sprang umher zwischen den rollenden Kutschen, er hatte Bewegungsdrang. „Felix, lass das“, sagte die Betreuerin, für die der Junge schwärmte, und er eilte zu ihr, wollte hoch auf ihre Kutsche, doch die großen Räder erfassten ihn. Bevor der Notarzt seinen Weg in den Wald fand, war Felix tot.

Mehr als 20 000 Kinder und junge Erwachsene sterben jährlich in Deutschland, zurück bleiben ihre Mütter und Väter. Weil Eltern ohne ihre Kinder ähnlich verloren sind wie Kinder ohne ihre Eltern, nennen sie sich verwaiste Eltern. Selten liebt ein Mensch einen anderen so sehr wie den Sohn oder die Tochter, selten wird er so tief um einen anderen trauern.

Das galt selbst für Epochen, in denen die Kindersterblichkeit hoch war: Nach dem Tod seiner Tochter Tullia setzte der Politiker Cicero alles daran, ihr im alten Rom einen Tempel zu errichten, und als der Sohn von Karl Marx beerdigt wurde, stellte sich ein Freund neben den Philosophen, um zu verhindern, dass dieser dem Sarg hinterherspringen würde.

Stirbt ein alter Angehöriger, können die Hinterbliebenen zumindest hoffen, dass er ein erfülltes Leben hatte. Der Tod eines jungen Menschen dagegen ist zutiefst widernatürlich. Schließlich soll ein Kind wachsen und gedeihen, sein Leben stellt die Verlängerung des eigenen dar, sein Tod kommt, so schrieb die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich, einer „seelischen Amputation“ gleich.

Die Luthers hatten sich Kinder sehr gewünscht, und da sie keine leiblichen bekommen konnten, bemühten sie sich um eine Adoption. Im Mai 1989 war es so weit, und in einer Potsdamer Klinik wurde ihnen ein drei Tage altes Bündel in den Arm gelegt. Der Name hätte nicht passender sein können: Felix, der Glückliche. In diesem Wendeherbst trauten sich die Luthers nicht zu demonstrieren, sie fürchteten, dass man ihnen ihr kleines Glück wieder nehmen könne. Das passierte nicht, stattdessen meldete sich vier Jahre später erneut das Jugendamt, dieses Mal mit dem kleinen Philipp. Luthers, die Überglücklichen: Die Grenzen waren offen, und sie hatten zwei Söhne, die jeden Abend friedlich in ihrem Doppelstockbett einschliefen, Felix unten und Philipp oben.

Und dann dieser Tag, an dem die Luthers durch zwei Polizisten erfuhren, dass das untere Bett leer bleiben werde. Über die Tage und Wochen danach kann Thomas Luther, ein kräftiger Mann mit Vollbart, kaum sprechen, er sitzt in seinem Haus in Potsdam und hat Tränen in den Augen – was soll man auch erzählen von Abwesenheit und Leere. Er sei wie in einer „weißen Wolke“ gewesen, sagt er.

Dieses Gefühl, der Welt abhandengekommen zu sein, beschreiben viele Eltern. Aufstehen oder liegen bleiben, essen oder nicht – alles wird bedeutungslos. Dabei stellt das Leben höhere Ansprüche denn je, der Partner leidet auch und braucht Hilfe, oft gibt es Geschwister. In Trauerseminaren zeigen Seelsorger manchmal ein Mobile, das aus fünf Wollpuppen besteht, mal hängt die eine höher, mal die andere, mal verheddern sie sich, aber egal, was passiert, sie bleiben zusammen. Bis der Seelsorger eine Schere nimmt und eine Puppe abschneidet und damit das ganze System zerstört.

Wie schwer es ist, ein neues Gleichgewicht in der Familie zu finden, hat auch Anna Vega de Schoen erlebt. Es war an einem Samstag, Anna Vega de Schoen, ihr Mann, Roxana, fünf Jahre, und Marlon, sechs Jahre, wollten zusammen Lasagne essen und einen Film schauen. Doch Roxana hatte mit einem Mal eine warme Stirn und keinen Hunger mehr. Die Eltern dachten sich nichts Schlimmes. Jede Mutter, jeder Vater weiß, wie schnell so ein kleines Fieber kommt und geht, und sie aßen allein. Lasagne hat es bei ihnen seither nicht mehr gegeben. Noch in derselben Nacht kam Roxana ins Krankenhaus, am nächsten Tag war sie tot, die Diagnose: Meningitis.

Zwölf Jahre sind seitdem vergangen, Anna Vega de Schoen, 42 Jahre, sitzt in ihrem Wohnzimmer in Berlin, die schwarzen Haare streng zurückgekämmt. Sie hat ein Foto von Roxana vor sich liegen und erzählt so lebhaft von ihr, dass man das Bild nicht mehr braucht, um sich das Mädchen vorzustellen. Musste Roxana auf die Toilette, zog sie sich, egal wo, schnurstracks die Hose herunter. In der U-Bahn liebte sie es, die Türen aufzudrücken. Einmal kam ihr ein bulliger Bauarbeiter zuvor. Sie ließ einen Schrei los, der Mann drehte sich erschrocken um, offenbar erwartete er jemanden auf Augenhöhe, dann erst senkte er den Blick und entdeckte die kleine Person, die ihn empört anblitzte. Mit einem Mal gibt es keine Entrüstungsschreie in der U-Bahn mehr, sondern nur noch die Frage, wie man weiterleben soll.

Vier Selbsthilfegruppen rief Anna Vega de Schoen an. Melden Sie sich in einem Jahr wieder, sagte die erste. In der zweiten Gruppe sagte man ihr: Leider die falsche Todesursache, wir kümmern uns nur um Krebs. Die dritte nahm nur Eltern von Teenagern. Die vierte, die hätte Platz gehabt, aber das war eine Schweigegruppe, und Anna Schoen wollte nicht schweigen, und so gründete sie im Jahr 2000 selbst einen Verein: Verwaiste Eltern und Geschwister Berlin e. V. Inzwischen ist er dem Bundesverband der Verwaisten Eltern in Deutschland angegliedert und bietet Gruppentreffen und Einzelberatung, Jahr für Jahr wenden sich etwa 120 Betroffene an den Verein, es kommen Menschen, die eine Fehlgeburt erlebt haben, genau wie Eltern, die ihr erwachsenes Kind verloren haben.

Natürlich ist Trauer so unterschiedlich wie die Menschen, die sie empfinden – 158 Reaktionen von Tränen bis zum Schockzustand hat der Klinikseelsorger George Fitchett aus Chicago in den ersten Stunden bei Hinterbliebenen beobachtet. Doch hat jeder Schmerz auch Ähnlichkeiten, deshalb hilft der Verein Müttern und Vätern so sehr. Wer sonst versteht, wie wichtig es sein kann, das vom Unfall übel zugerichtete Kind noch einmal anzusehen?

Thomas Luther hat das nicht getan, wohlmeinende Menschen rieten ihm davon ab, heute bedauert er es. Jahrelang habe er die Schutzbehauptung, dass Felix in Wirklichkeit nur abgehauen sei vom Reiterhof, nicht aus dem Kopf bekommen. „Ich habe ja nur ein Stück Holz beerdigt“, sagte er sich.

Im Verein können die Eltern darüber sprechen, dass der große Verlust mitunter weitere nach sich zieht, beste Freunde still und stumm werden, andere sich verhalten, als sei Trauer ein termingebundenes Geschäft. Na, geht es schon besser?, lautet eine typische Frage. Ihre Antwort, sagt Anna Vega de Schoen, sei die gleiche geblieben, nach einem Jahr, nach fünf Jahren, nach zehn Jahren: „Nein. Denn sie ist immer noch tot.“ Dass der Schmerz nicht aufhört, zeigt auch das Beispiel der Bildhauerin Käthe Kollwitz. 20 Jahre lang hat sie an einem Denkmal für ihren Sohn gearbeitet, der im Ersten Weltkrieg fiel.

Die Trauer verändert jedoch ihre Qualität. Anfangs liegt sie wie eine schwere Decke über dem Betroffenen, schluckt jedes Licht, mit der Zeit wird sie leichter und ihr Gewebe durchlässiger, auch wenn man sie nie ganz abwerfen kann. Dem Psychiater Jown Bowlby zufolge durchläuft der Mensch nach einem Verlust vier Phasen: Ohnmacht, Wut, Verzweiflung und schließlich Reorganisation.

Besonders schwer ist es für die verbliebenen Geschwister. Psychologen sagen, sie seien doppelte Verlierer. Nicht nur Bruder oder Schwester fehlen ihnen, sondern auch die Eltern, wie sie waren und nie mehr sein können. Anna Vega de Schoen spricht von einem „Verlust der Leichtigkeit“. Vor Roxanas Tod konnte ihr Sohn Marlon auf dem Klettergerüst herumturnen, wie er wollte, und sie dachte: „Hauptsache, er bricht sich kein Bein.“ Nach Roxanas Tod packte sie in solchen Momenten die Angst, und sie fragte sich: „Was, wenn er runterfällt und sich den Schädel aufschlägt?“

Dass der Sohn ihre Furcht nicht spürt, war ihr immer wichtig. Wenn Marlon, inzwischen fast 19 Jahre alt, mal länger weg ist, schreibt sie ihm eine SMS, aber nie: Ist alles ok? Oder: Wo bist du? Sondern fast beiläufig: Scheint die Sonne? Und Marlon antwortet mit großer Zuverlässigkeit, vielleicht, weil er weiß, worum es der Mutter wirklich geht. Nicht dass die Sonne scheint, sondern dass er, ihr geliebter Sohn, am Leben ist.

„Bleibende intime Ergänzer“ hat der Philosoph Peter Sloterdijk uns nahestehende Tote genannt. Eine treffende Bezeichnung, doch bleibt die Frage, wie man einen Menschen, der in der Erinnerung nie altert, in ein fortschreitendes Leben integrieren kann. Nach dem Tod von Felix schlief Philipp einige Jahre oben im Doppelstockbett, ganz so, als sei alles wie früher, nur dass das untere Bett leer blieb. Bis er eines Tages für den Vater eine Zeichnung machte. Thomas Luther, der Bauwesen studiert hat, sägte und hämmerte, und aus dem Doppelstock- wurde ein Hochbett. Philipp lag weiterhin oben, und unten, wo der Platz seines Bruders gewesen war, entstand ein kleines Reich, geschützt durch einen Vorhang, in das sich Philipp zurückziehen konnte.

Seitdem sind zehn Jahre vergangen, vor kurzem ist Philipp 18 geworden. „Papa, ich muss mit dir reden“, hat er vor seinem Geburtstag zum Vater gesagt und ihm dann eröffnet, dass er sich tätowieren lassen wolle. Thomas Luther redete anfangs dagegen, sich so entstellen lassen, wozu denn das, da sagte der Sohn ihm, was er sich in die Haut stechen lassen wolle: Geburts- und Sterbedatum des älteren Bruders. Und Thomas Luther hat nicht mehr widersprochen.

Er selbst pflegt das Gedenken auf seine Weise. Jahrelang hat er, wenn er auf einer Feier war und mit Menschen ins Gespräch kam, gesagt, er habe nur einen Sohn, und zugleich darunter gelitten, dass er Felix verschwieg. Inzwischen macht er es anders. Fragt ihn einer, wie viele Kinder er hat, dann antwortet er: „Ich habe zwei Söhne, und einer von ihnen ist tot.“ Felix, sagt Luther, sei es wert gewesen, dass man über ihn spricht.

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