zum Hauptinhalt
Kindlich. Das Internet ist voll von Bildern und Videos von jungen Menschen mit niedlicher Anmutung.

© Ole Spata/picture alliance / dpa

Für eine neue Definition von Unschuld: Wenn aus niedlichen Internethelden Bösewichte werden

Wer eben im Internet noch für seine Niedlichkeit bewundert wurde, kann schon morgen dämonisiert werden. Aber der Glaube an die Unschuld ist naiv. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Max Tholl

Wie könnte man ihm nur widerstehen? Seit vergangener Woche bewegt ein Video des zehnjährigen Mason Ramsay das Internet und die Herzen der Menschen. Es zeigt Mason, wie er die Westernballade „Lovesick Blues“ jodelt. Seine zerbrechliche Kinderstimme, das weiße Hemd samt Fliege, die überproportional große Gürtelschnalle und die Mini-Cowboystiefel – der „yodeling boy“ ist persiflagenhaft süß. Kein Wunder, dass das Internet ihn in seinem Niedlichkeitswahn über Nacht zum Star gemacht hat. Doch wie lange noch, bis jemand herausfindet, dass der kleine Mason regelmäßig andere Kinder verprügelt? Wie lange bleibt Masons Unschuld noch erhalten?

Es scheint eine triviale Frage zu sein, aber viele haben sie bereits gestellt. Denn es gibt Präzedenzfälle. Mit jedem neuen Kommentar zum Video erhöht sich das Risiko, dass Mason sich als „milkshake duck“ entpuppt. Der Begriff bezeichnet das Internet-Phänomen, dass alles, was zuerst aufgrund seiner Niedlichkeit gefeiert wird, sich schon wenig später als schlecht und übel herausstellt. Zum Beispiel Keaton Jones, der Junge, der in einem Video mit Tränen in den Augen über die täglichen Schikanen der Schulhofschläger berichtet. Stars wie Katy Perry und Justin Bieber sprachen ihm ihr Mitleid aus, bis, ja, bis Familienfotos auftauchten, auf denen von Waffenverherrlichung bis hin zu Hakenkreuztattoos einiges zu sehen war. Oder Gary aus Chicago, der bei den letztjährigen Oscars die Herzen der Zuschauer erwärmte, bis, ja, bis sich herausstellte, dass er drei Tage zuvor seine 20-jährige Haftstrafe wegen versuchter Vergewaltigung abgesessen hatte. Die Liste lässt sich weiterführen. Die Lektion: Im Internet gibt es keine Unschuld.

Ein gesunder Zynismus

Dass wir angesichts dessen noch nicht zu gefühlskalten Nihilisten geworden sind, ist bemerkenswert. Denn es ist schwer geworden, an das Gute im Menschen zu glauben. Besonders im Internet, wo sich etliche Verschwörungstheorien und Fake News tummeln. Natürlich ist die „milkshake duck“ zynisch, aber dieser Zynismus ist gesund, denn er ist realistisch. Der Glaube an die Unschuld ist naiv. Vielmehr wäre es an der Zeit, Unschuld neu zu definieren, nicht als vollkommen und ewig, sondern als temporär und lückenhaft. Sollte man etwa kein Mitleid mit Keaton haben, nur weil seine Eltern Rassisten sind? Was das milkshakeducking uns lehrt, ist, objektiv zu bleiben. Genau daran fehlt es nämlich oft. Über Mason gibt es noch keinen Skandal. Sein einziger dunkler Fleck sind seine schiefen Töne.

Zur Startseite