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Gefährlicher Bergbau: Aderlass

Auf der Suche nach Silber und Zinn höhlen Minenarbeiter den bolivianischen Cerro Rico aus. Das geht seit Jahrhunderten so, tausende Stollen durchziehen sein Inneres. Der Berg kostete vermutlich schon Millionen Menschen das Leben. Und auch Augustin Sánchez wird bald sterben. Es sei denn der 15-Jährige findet den Ausstieg.

Augustin Sánchez steht Schweiß auf der Stirn. Er wuchtet eine Schubkarre voller Felsgeröll durch den Stollen. Kurz blickt er auf. Dann läuft er weiter, schiebt seine anderthalb Zentner schwere Ladung über den holprigen Steinboden, durch knöcheltiefe Pfützen, über dünne Bretter, die notdürftig metertiefe Löcher abdecken.

Tausende Male ist Augustin diesen Weg schon gegangen. Er hat sich gewöhnt an den stechenden Geruch des Ammoniaks, an den Staub, das Knirschen zwischen seinen Zähnen. Der Geschmack des Todes, für den schmächtigen 15-Jährigen ist er längst zu einem ständigen Begleiter geworden.

Seit einem Jahr schuftet Augustin in den engen Stollen des Cerro Rico, des „reichen Berges“, wie die 4800 Meter hohe Erhebung im Süden Boliviens auf Spanisch heißt. Augustin sucht nach Silber und Zinn, damit seine Familie überleben kann. Wenn er noch lange im Berg arbeitet, wird er selbst es vielleicht nicht überleben.

„Ich kann gar nicht mehr sagen, auf wie vielen Beerdigungen ich hier bereits war.“ Maxime Chiquet blickt aus seinem Bürofenster auf den Cerro Rico, der in zwei Kilometer Entfernung, am Südrand der bolivianischen Andenstadt Potosí, in den Himmel ragt, ein riesiger, gelbbrauner Kegel. Chiquet, 25, blaue Augen, schütteres Haar, hält einen Moment inne. Im Laufe der Jahre hat sich sein Bild des Cerro Rico gewandelt. Von einem leblosen Gebilde aus Stein und Metall ist der Berg zu seinem persönlichen Widersacher geworden. Zu einem Konkurrenten, den es zu besiegen gilt.

Chiquet will dem Todesberg seine Opfer entreißen. Im Auftrag der Schweizer Hilfsorganisation Voces libres („Freie Stimmen“) versucht er, die Minenarbeiter davon abzuhalten, in die Stollen zu gehen. Mit Mikrokrediten und Spenden will er das erreichen. Aber der Berg hat auch seine Argumente. Dem Reiz des Silbers, des Zinns, Zinks und Bleis erliegen viele. Maxime Chiquet kämpft dagegen an. Und gegen die Zeit.

Denn der Cerro Rico ist durch tausende Stollen so ausgehöhlt, dass Experten ihn für instabil halten. Bereits jetzt ist er um etwa 200 Meter abgesackt, an seiner Spitze hat sich ein Krater gebildet wie bei einem Vulkan.

Der schöne Hügel, wie ihn die Indios in ihrer Sprache Quechua nennen, ist nur noch eine fragile Fassade für ein Labyrinth von Gängen. Und wenn die Minenarbeiter sein Gestein weiterhin perforieren, sich immer tiefer in den Berg sprengen, dann wird der Tag kommen, an dem der Cerro Rico über ihnen zusammenbricht. Es wäre der katastrophale Schlussakt eines Jahrhunderte langen Dramas, das immer nur Profit kannte und den Tod.

Seit die spanischen Eroberer den Berg voller Silber 1545 entdeckten, soll er etwa acht Millionen Menschen das Leben gekostet haben. Für mehr als zwei Jahrhunderte zwangen die Kolonialherren aus Europa die Indios zur Arbeit in den Minen. Unzählige Ureinwohner verunglückten in den ungesicherten Stollen, starben an der Staublunge, am Quecksilber, mit dem sie das Edelmetall aus dem Gestein lösten. Als den Spaniern der Nachschub an Menschen ausging, setzten sie Sklaven aus Afrika ein. Die Schwarzen konnten in der dünnen Höhenluft kaum arbeiten, litten außerdem unter der nächtlichen Kälte. Viele von ihnen kamen schon nach wenigen Monaten um.

Um den Abbau des Silbers zu organisieren, hatten die Kolonialherren in der menschenleeren Gegend die Stadt Potosí gegründet. Bald lebten 120.000 Menschen in dem Ort über den Wolken, mehr als in Madrid, Rom oder Paris zu jener Zeit. Mitten im kargen bolivianischen Hochland, auf gut 4000 Metern, wo kaum etwas wächst bis auf Büschelgräser und Zwergsträucher, lag im 17. Jahrhundert die größte Stadt des amerikanischen Kontinents.

Zu wichtigen Festen wurden in Potosí schon mal ganze Straßenzüge mit Silberbarren gepflastert. Die Spanier wohnten in pompösen Herrenhäusern, sie ließen prachtvolle Klöster errichten, bauten 14 Tanzschulen und nicht weniger als 36 barocke Kirchen. Über die Anden schleppten Indios die Luxuswaren der spanischen Oberschicht nach Potosí: Hüte aus Paris, Edelsteine aus Indien, Porzellan aus China, Perlen aus Panama.

„Ich bin das reiche Potosí, Schatzkammer der Welt“, heißt es im Wappen der Stadt. Bald finanzierte der Cerro Rico fast die Hälfte aller Ausgaben des spanischen Weltreiches. „Vale un Potosí“, es ist ein Vermögen wert, wurde im Spanischen zur festen Redewendung. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts aber versiegten die Silbervorräte des Berges, der Abbau lohnte sich kaum noch, und die Spanier verloren das Interesse. Für lange Zeit versank Potosí in der Bedeutungslosigkeit. Ein altes Problem, die Misere des Kontinents.

Du kommst heute, du arbeitest morgen

Heute gibt es einen neuen Boom am Berg. Nun ist es vor allem Zinn, wonach die Mineros suchen, ein vielseitiger Rohstoff, der für die Herstellung von Konservendosen ebenso gebraucht wird wie für elektronische Halbleiter. Vor allem China verlangt nach dem Metall. Und im dunklen Skelett des Cerro Rico riskieren rund 15 000 Mineros ihr Leben dafür. Aus der Schatzkammer von einst ist ein El Dorado der Kleinwirtschaft geworden.

In dem engen Stollen, in den der 15-jährige Augustin Sánchez jeden Morgen geht, steht das Wasser, das der Berg ausschwitzt. In Augustins Gruppe arbeiten noch fünf weitere Jungs wie er. Immer wieder husten sie rasselnd, spucken braunen Schleim aus.

Augustin, die Klamotten weiß vom Staub, wuchtet Schubkarre um Schubkarre. Es ist die Arbeit für die Anfänger im Berg, stupide und Kraft raubend. Diejenigen, die höher stehen in der Hierarchie, tragen den Fels mit Pressluftmeißeln ab oder bohren Löcher für die Sprengungen mit Dynamitstangen.

So weit ist Augustin noch lange nicht. Etwa 50 Steinladungen pro Tag muss er schaffen, jede etwa 80 Kilo schwer. Der schmale Junge mit den feinen Gesichtszügen bewegt pro Tag etwa vier Tonnen zertrümmerten Fels. Zwar dürfte er laut des bolivianischen Gesetzes erst mit 18 Jahren in der Mine arbeiten, aber Kontrollen gibt es kaum. Bolivien ist Südamerikas ärmstes Land, und in vielen Familien reicht das Geld nur, wenn auch die Kinder mitverdienen. Am Cerro Rico schuften Hunderte Minderjährige, die jüngsten im Grundschulalter. Augustin hat sechs jüngere Geschwister, doch sie arbeiten noch nicht, sagt er. „Ich bin auch wegen ihnen hier“, murmelt er. „Wir brauchen Essen.“

Zwischen 60 und 90 Bolivianos verdient er am Tag, sieben bis zehn Euro, je nachdem, wie viel Verwertbares seine Gruppe aus ihrem Stollenabschnitt herausgeholt hat. Das Geld wird ihm von Eduardo Martinez ausbezahlt, dem Vorsteher der Mine, den alle hier nur Don Eduardo nennen. Der winzige 58-Jährige ist Mitglied einer der über 30 Kooperativen, die am Cerro Rico die Minen unter sich aufteilen. Wie viel die Stollen der einzelnen Genossenschaften abwerfen, ist Glückssache. Und so gibt es einige verhältnismäßig reiche Kooperativen, die sich Pressluftmeißel und eigene Lastwagen leisten können. Die anderen, die weniger ertragreiche Minen haben, müssen die Werkzeuge häufig mieten, was ihren Profit weiter schmälert.

Das Gestein bringen die Kooperativen zu Metallfabriken außerhalb der Stadt, wo die Konzentration des Zinngehalts bestimmt wird. Bezahlt wird nach dem internationalen Börsenpreis.

Wie lange das System der Kooperativen weiter bestehen kann, ist ungewiss. Der bolivianische Präsident Evo Morales will den Bergbau verstaatlichen. Erst in den 90er Jahren war die staatliche Bergbaugesellschaft Comibol aufgelöst worden. Aber nun hält die Nachfrage aus China und Indien die Preise hoch. Die Regierung will wieder einsteigen ins Geschäft. Die meisten Mineros sind dagegen, sie fürchten, dass der Staat die Minen mit deutlich weniger Arbeitern betreiben würde.

Noch aber zieht der gute Rohstoffpreis die Menschen vom Lande an, die dann, so wie auch Augustin, zu Tausenden als Leiharbeiter für die Kooperativen schuften. Für sie bleibt am wenigsten, und dennoch ist es meist mehr, als sie auf ihren kargen Äckern verdienen würden.

„Zum Berg kommen alle, die Geld brauchen und nichts anderes können“, sagt Rolando Colque am Eingang einer der Minen. „Das Prinzip ist einfach: Du kommst heute, du arbeitest morgen.“

Der stämmige 44-Jährige hat als junger Mann selbst in den Stollen Schubkarren gewuchtet, doch das ist schon mehr als 20 Jahre her. Heute führt er Besucher zum Cerro Rico. Seine Eltern hätten ihn damals zum Aufhören gedrängt und Geld angespart, damit er Tourismus studieren konnte. Sie hätten genau gewusst, was mit denen passiert, die zu lange in den Minen arbeiten.

Nach einer langen Schicht wartet nur der Schnaps

Niemand kann genau sagen, wie viele Mineros noch immer jedes Jahr ihr Leben verlieren. Ein knappes Dutzend sei es wohl, behaupten die Minenarbeiter. Unabhängige Beobachter dagegen schätzen, dass es Hunderte Opfer sein könnten, die verschüttet werden, von Steinplatten erschlagen, von giftigen Gasen erstickt. Die Arbeiter würden das Problem herunterspielen, damit keine kostspieligen Sicherheitsauflagen eingeführt werden, denn ihre Ausrüstung zahlen sie selbst.

Wen der Berg nicht schluckt, den mergelt er aus. Die meisten langjährigen Minenarbeiter haben eine Staublunge, an der sie früher oder später zugrunde gehen. Die winzigen Partikel, die die Männer täglich einatmen, verhärten das Lungengewebe, sie lösen chronische Entzündungen aus, führen zu Krebs und Tuberkulose. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 40 Jahre.

Zumindest die Mitglieder der Kooperativen haben eine Krankenversicherung. „Zum Arzt geht hier trotzdem niemand“, sagt Colque, der Fremdenführer. „Die Leute haben Angst vor der Wahrheit, sie verdrängen das Problem, bis es nicht mehr geht.“ Im Krankenhaus von Potosí liegen regelmäßig Mineros, die kaum noch atmen können, angeschlossen an Sauerstoffflaschen.

Gegen den Staub haben sich manche aus Augustins Gruppe Tücher vor Nase und Mund gebunden. In der Stadt bieten einige Geschäfte auch richtige Bergarbeitermasken mit Atemfiltern an, aber die sind zu teuer. Vor und nach ihrer Schicht trinken die Bergleute dafür Fruchtsaft mit Milch. „Das reinigt die Lunge“, sagen sie.

Und alle kauen sie unablässig Kokablätter, ihre Wangen sind prall gefüllt. Die Blätter erhöhen ihren Puls, nehmen ihnen Müdigkeit und Hunger. Für fünf Bolivianos kaufen sie auf dem Markt 120 Gramm Blätter. So brauchen sie am Morgen nur eine Nudelsuppe, arbeiten dann acht bis zehn Stunden durch.

Während Augustin darauf wartet, dass seine Schubkarre abermals beladen wird, entwickelt sich zwischen ihm und Rolando Colque ein Gespräch. Augustin erzählt, dass er nach der Arbeit manchmal noch zur Abendschule geht.

„Mach das weiter, dann hast du in ein paar Jahren dein Abitur und kannst studieren“, sagt ihm Colque.

„Meinst du?“

„Ja klar, ich habe früher auch in den Minen gearbeitet, aber ich habe es hier rausgeschafft. Es ist möglich.“

„Vielleicht.“

Augustin lächelt kurz. Dann wuchtet er seine Schubkarre von ihrem Platz und verschwindet in der Finsternis des Stollens.

Colque blickt ihm nach. „Die meisten hören irgendwann auf mit der Schule“, sagt er. „Es wird ihnen zu viel, leider.“

Entwicklungshelfer Maxime Chiquet hat am Berg schon kostenlose Schulranzen verteilen lassen, um den Familien die Vorzüge der Bildung näher zu bringen. Er vergibt Kredite für Suppenküchen oder Nähmaschinen, Hauptsache, sagt der Franzose, die Menschen kommen los vom Berg.

Doch je länger Chiquet in seinem Büro über die Bergarbeiter spricht, desto klarer wird, dass er den Versprechen des Berges unterliegt. Die Landarbeiter, sagt er, kämen mit der Vorstellung nach Potosí, dass der Berg ihnen ein gutes Leben bescheren würde, eine eigene Wohnung, ein Haus vielleicht. „Davon reden sie auch nach 15 Jahren noch, obwohl sie längst wissen müssten, wie wenig für sie übrig bleibt.“ Chique schüttelt den Kopf. Statt die Wahrheit zu akzeptieren, sagt er, machten sich die Arbeiter von Generation zu Generation etwas vor.

„Pitufos“, Schlümpfe, nennen die Mineros die kleinen Plastikflaschen mit 96-prozentigem Alkohol, die sie für ein paar Bolivianos in der Stadt kaufen. Verdünnt mit Wasser oder Sprite schütten sie das nahezu reine Ethanol herunter, nur an besonders erfolgreichen Tagen leisten sie sich Bier.

„Nach einer langen Schicht brauchen sie den Schnaps, um sich wieder gut zu fühlen“, sagt der ehemalige Minenarbeiter Colque. Anders als der Entwicklungshelfer Chiquet fragt er sich nicht, warum vielen Mineros der Wille zur Veränderung fehlt. Zum einen sei da das Geld: wenig zwar, aber genug für Essen, Schuhe, ein Zimmer.

Doch wichtiger sei etwas anderes, meint Colque. „Die Männer arbeiten hier, sie feiern hier, sie kennen nichts anderes mehr. Die Kumpel sind ihre Familie.“

Der Berg, von dem immer weniger da ist, wird in ihrem Leben immer größer.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

Johannes Armin Schneider[Potosí]

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