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Diese Banknoten haben in Indien keinen Wert mehr.

© AFP

Geldentwertung in Indien: Verzweifelt vor der Bank

Indiens wichtigste Geldscheine sind nicht mehr gültig. Die Menschen stehen überall im Land Schlange. Doch Bargeld ist Mangelware - und die Leidtragenden sind vor allem die Armen.

Vijay hat die vergangenen drei Tage vergeblich nach Geld angestanden. Der 40-jährige Tagelöhner sitzt in eine alte Wolldecke gehüllt in der kühlen Nacht mit etwa 50 anderen Menschen vor der Axis-Bank in einem südlichen Randbezirk der indischen Hauptstadt Neu-Delhi. Vijay ist verzweifelt: „Wir haben kein Geld mehr. Was können wir tun, wir können ja nicht das alte Geld essen.“ Seit vor gut einer Woche Indiens Premierminister Narenda Modi unerwartet alle großen Banknoten für ungültig erklärt hat, regiert das Chaos. Bargeld ist Mangelware, weil der versprochene Nachschub an neuen Scheinen stockt und die Geldautomaten nicht so schnell umgerüstet werden können. Eigentlich sollten mit dem Überraschungscoup die Schwarzgeld-Besitzer abgestraft werden. Doch nun leiden vor allem die Armen, die ohnehin kaum genug zum Überleben haben. Zwei Drittel der indischen Wirtschaft funktionieren auf Bargeldbasis. Die aus dem Verkehr gezogenen 500- und 1000-RupienScheine machen mehr als 80 Prozent des Bargeldumlaufs in Indien aus.

Der eklatante Mangel an gültigen Zahlungsmitteln hat bereits mehr als 30 Menschenleben gekostet: Im indischen Bundesstaat Telangana nahm sich am Mittwoch ein hoch verschuldeter Bauer mit Insektengift das Leben, nachdem er in den vergangenen Tagen vergeblich versucht hatte, seine Parzelle zu verkaufen. Wer noch gültige Scheine hat, kauft Essen, um nicht hungern zu müssen. Das stundenlange Schlangestehen vor den Banken ist besonders für alte und kranke Menschen eine Strapaze: Der 48-jährige Grafik-Designer Soudar Rehman starb jüngst an einem Herzinfarkt, nachdem er drei Tage lang vor einer Bank in der Innenstadt von Neu-Delhi gestanden hatte. Kliniken weisen Kranke und Verletzte ab, die nur alte Banknoten bringen. Im Bundesstaat Odisha starb ein zweijähriges Kind, weil ein Rikschafahrer sich geweigert hatte, es ins Krankenhaus zu bringen, und die Eltern keine gültigen Geldscheine hatten.

Was zuerst als politischer Geniestreich von Premierminister Modi gefeiert wurde, sieht immer mehr aus wie das Werk eines Dilettanten. Modi sah sich jetzt gezwungen, die mehr als 1,2 Milliarden Einwohner Indiens um mehr Geduld zu bitten. Die Maßnahme sei „ein wenig herb, wie ein starker Tee“, gestand der rechtsnationalistische Politiker ein, der seinen Erfolg einer Mischung aus antielitärem Populismus und verstecktem Rassismus verdankt. In einer bizarren Rede erklärte Modi mit Tränen in den Augen, welche Opfer er für sein Land gebracht habe und warnte davor, dass dunkle „Mächte“ nach seinem Leben trachteten.

In Delhi schließen Fabriken, weil ihre Arbeiter vor den Banken Schlange stehen

Mittlerweile leidet die Produktivität des Landes. Fabrikbesitzer in Delhi schließen ihr Unternehmen, weil die Arbeiter vor den Banken und Postämtern nach neuem Geld Schlange stehen. Etwa die Hälfte der 1800 Firmen in Mayapuri, in West-Delhi, seien geschlossen, erklärte ein Sprecher der dortigen Industrievereinigung. Anderswo im Lande ist die Situation ähnlich. „Millionen arbeitende Menschen stehen Schlange. Lang lebe die Produktivität“, schrieb der ehemalige Finanzminister P. Chidambaram sarkastisch auf Twitter. Die Regierung sei schlecht vorbereitet. Lastwagenfahrer lassen ihre Fahrzeuge stehen, weil sie kein Geld für Benzin haben. Landwirte können kein Saatgut kaufen, um den Winterweizen anzupflanzen. Auch ausländische Touristen wissen nicht mehr weiter. Schwarzmarkthändler bieten den Urlaubern gültige 100-Rupien-Scheine zu Wucherpreisen an.

In einem Brief an die Regierung forderten über 150 Wirtschaftsfachleute, Akademiker und Schriftsteller, die Operation zu stoppen. Die „ungeplante Demonetarisierung“ habe „zu unruheartigen Zuständen im Lande“ geführt, schrieben sie laut „Times of India“. Dem Finanzministerium zufolge haben nur 30 Prozent der indischen Bevölkerung Zugang zu Banken. Wer alte Scheine umtauschen wolle, müsse außerdem komplizierte Formulare ausfüllen und einen gültigen Pass besitzen. Menschen, die kaum lesen und schreiben könnten, litten daher am meisten unter der Regelung.

Banken haben begonnen, Finger von Kunden mit nicht abwaschbarer Tinte zu markieren. Dies soll verhindern, dass Menschen mehrfach Geld eintauschen oder abheben. Die Regierung hat versprochen, dass bis Dezember die Hälfte der Geldautomaten wieder funktioniert. Andere rechnen damit, dass diese Umstellung noch Monate dauern wird.

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