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Günter Lubitz kämpft öffentlich um das Andenken seines Sohnes.

© Michael Kappler/ dpa

Germanwings-Absturz: Günter Lubitz kämpft um das Andenken seines Sohnes

Was wäre, wenn es anders war? Wenn der Sohn kein Massenmörder, sondern Opfer wurde. Günter Lubitz glaubt an die Unschuld des Piloten und präsentiert Indizien.

Als Günter Lubitz den Saal betritt, sind zwei Jahre, neun Minuten und 42 Sekunden seit jenem Moment vergangen, in dem er seinen Sohn verlor, weil der nach Ansicht der zuständigen Behörden ein Flugzeug gegen einen Berg in den französischen Alpen steuerte. 150 Menschen starben am 24. März 2015 um 10 Uhr 41, sie kamen aus Barcelona und wollten nach Düsseldorf. Andreas Lubitz war der Copilot.

Und nun, an diesem Freitag in Berlin, der ein Jahrestag ist, geht sein Vater durch den Konferenzsalon 3 des Hotels Maritim an der Friedrichstraße auf ein Podium zu, von dem aus er gleich etwas richtigstellen will. Ihn erwarten 20 Fernsehkameras und zwölf Stuhlreihen voll mit Journalisten. „Wir sind auf der Suche nach der Wahrheit“, wird Günter Lubitz sagen. Es sei nicht zweifelsfrei erwiesen, worin sich alle Untersuchungsbehörden einig sind: dass sein Sohn allein verantwortlich für den Absturz der Germanwings-Maschine war.

Zuerst jedoch sagt er drei Minuten lang nichts, nur die Klickgeräusche der Pressefotografenkameras füllen den Raum. Gelegentlich klingt es wie Maschinengewehrsalven. Dann fängt Lubitz an zu reden. Über seine Trauer und die seiner Frau, die eine andere Trauer sei als die der Hinterbliebenen der 149 anderen Toten. „Wir müssen damit leben“, sagt er, dass ihr Sohn zwei Tage nach dem Absturz „von der französischen Staatsanwaltschaft als Täter genannt wurde“, dass er als solcher seitdem immer wieder in den Medien beschrieben werde. Im Abschlussbericht der französischen Untersuchungskommission steht, Andreas Lubitz müsse den Absturz bewusst und geplant herbeigeführt haben, um auf diese Weise Suizid zu begehen.

Er durchsuchte 16000 Seiten Ermittlungsakten auf Ungereimtheiten

Ein kleiner, schlanker Mann sitzt dort vorne, beleuchtet von Kameralampen, er trägt einen schwarzen Anzug und eine randlose Brille. Er wird flankiert von zwei Rechtsanwälten, einem Moderator der Pressekonferenz und einem Luftfahrtexperten, der in Lubitz’ Auftrag Ungereimtheiten im Bericht der Franzosen und auf den mehr als 16 000 Seiten der Ermittlungsakten der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft suchte. Er hat welche gefunden.

Dort vorn sitzt ein Mann, der, so sagt es der Moderator, „Routine darin hat, sich zu verstecken“. Lubitz habe „Routine darin, beleidigt zu werden, Routine darin, nicht gehört zu werden“. Dieser Mann also hat sich nun entschlossen, aus seiner rheinland-pfälzischen Heimatstadt Montabaur nach Berlin zu reisen und sich der Öffentlichkeit zu stellen. Er hat sich entschieden, sich bei seiner Suche zusehen zu lassen, der Suche nach seinem Sohn, der 27 Jahre alt geworden war, unbedingt Pilot werden wollte und in den Augen der allermeisten ein Massenmörder sein dürfte, in seinen jedoch nicht. Wer war er wirklich?

Gedenken. Schüler legen in Haltern am See Blumen nieder.
Gedenken. Schüler legen in Haltern am See Blumen nieder.

© dpa

Ungefähr zur gleichen Zeit findet am Unglücksort in den französischen Alpen eine Gedenkfeier für die Opfer statt. 500 Angehörige sind auf Einladung des Germanwings-Mutterunternehmens Lufthansa gekommen. Einige ihrer Anwälte haben in den vergangenen Tagen von der Bestürzung der Hinterbliebenen berichtet, dass Lubitz’ Presseauftritt ausgerechnet am Jahrestag der Katastrophe stattfindet.

Lubitz sagt dazu: Natürlich wisse er, dass dieser Freitag ein besonderer Tag ist. Er habe auch gewusst, dass ihm diese Terminwahl „übelgenommen wird“. Er sei sich aber sicher, egal wann er zu einer Pressekonferenz eingeladen hätte, „die Reaktionen wären immer gleich gewesen“. Lubitz muss immer wieder um Fassung ringen, er spricht langsam, er holt Luft, einmal scheint seine Stimme kurz vorm Kippen zu sein. Seine Ansprache liest er vom Blatt, bis er bei jenem Satz angekommen ist, der ihm am wichtigsten zu sein scheint: „Unser Sohn war zum Zeitpunkt des Absturzes nicht“ – und hier folgt eine Pause – „depressiv.“

Es wäre ein Indiz, dass er sich gar nicht umbringen wollte

Das jedoch hat die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft jedenfalls zuletzt auch nicht behauptet. Sie stellte nur fest, dass Andreas Lubitz nicht gesund war. Er litt monatelang unter Schlaflosigkeit, er hatte Sehstörungen und wohl auch Angst davor, seine Fluglizenz deswegen zu verlieren oder gar zu erblinden.

In der breiten Öffentlichkeit jedoch mag sich das Bild eines dauerdepressiven, aus Verzweiflung seinen Tod suchenden Piloten festgesetzt haben. Er nahm Antidepressiva. Wogegen, wenn nicht zur Bekämpfung einer Depression – 2008 war Lubitz bereits einmal an einer solchen erkrankt – gibt die Staatsanwaltschaft nicht preis.

Es kann mit seinen Sehstörungen zusammenhängen. Fachärzte fanden keine organische Ursache dafür, also könnten sie psychosomatischer Natur gewesen sein. In solchen Fällen Antidepressiva zu verschreiben, ist nicht ungewöhnlich.

Doch was erklärt es, dass Lubitz nicht akut an Depressionen litt? Es wäre ein Indiz dafür, dass er sich möglicherweise nicht umbringen wollte. Genauso wie seine Suche auf Online-Plattformen nach Menschen, mit denen sich Lubitz in seiner Düsseldorfer Heimat zu „Gruppenaktivitäten“ verabreden könne. Lubitz sei also auf der Suche nach neuen Freunden, nach Bekannten gewesen.

Andreas Lubitz wurde 27 Jahre alt.
Andreas Lubitz wurde 27 Jahre alt.

© AFP

Herausgefunden hat das Tim van Beveren, ein „mehrfach von Kollegen meines Sohnes als renommierter Luftfahrtexperte“ empfohlener Journalist, wie Lubitz sagt. Beveren hat in seinem Auftrag die Fleißarbeit vollbracht, die Untersuchungsakten zu analysieren. Er hat mit Piloten gesprochen und ist selber einer, er suchte in Flugsimulatoren nach Antworten auf die Frage, ob sich alles so abgespielt hat, wie in den Akten beschrieben.

24. März 2015, 10 Uhr 30: Der Kapitän sagt zum Copiloten, dass er das Cockpit verlassen werde.

24 Sekunden später werden vom Stimmenrekorder Geräusche aufgezeichnet, die auf das Öffnen und Schließen der Cockpittür hindeuten. Von nun an ist Andreas Lubitz allein.

Wieder 29 Sekunden danach verändert sich die eingestellte Flughöhe von 38 000 Fuß auf 100. Das Flugzeug beginnt zu sinken.

Der Türsummer ist zu hören, was das Zeichen für die Bitte um Zutritt zum Cockpit ist. Niemand öffnet die – falls sie verriegelt war – nur von innen zu öffnende Tür. Dumpfe Stimmen bitten darum, sie endlich aufzumachen. Schläge gegen die Tür, vielleicht Tritte.

Viele Fragen zum Absturz bleiben offen

Im Inneren des Cockpits bleibt es, bis auf Lubitz’ Atemgeräusche, still.

Beveren weigert sich, zu spekulieren, aber er insinuiert mit seinen Erkenntnissen etwas: Könnte es nicht sein, dass Lubitz, nachdem der Flugkapitän das Cockpit verlassen hatte, das Bewusstsein verlor? Beveren hat als Journalist viel zum Thema Giftgase in Flugzeugen recherchiert. Was also, wenn Lubitz die Tür gar nicht aktiv verriegelt habe? Sie wäre dann über die Eingabe eines Codes von der Passagierkabine zu öffnen gewesen. Was, wenn es stimmt, was er von Rollfeldmitarbeitern eines deutschen Flughafens gehört haben will: dass die Tür-Elektronik in genau dieser Maschine schon einmal kaputt gewesen sein soll?

Warum hat der Flugdatenschreiber im Sinkflug zwei Betriebszustände des Flugzeugs gleichzeitig aufgezeichnet, die gar nicht gleichzeitig stattfinden können, weil sie sich gegenseitig ausschließen? Müsse man dann nicht die gesamten Daten des Gerätes in Frage stellen?

Warum stimmt die Unterschrift auf der Betriebserlaubnis – der Bescheinigung der Lufttüchtigkeit – des Flugzeugs nicht mit dem darauf gedruckten Namen überein?

Was wäre, wenn Lubitz nicht in mörderischer Absicht das Flugzeug zum Sinken brachte, sondern wegen des Wetters? Am 24. März 2015 habe es starke Turbulenzen auf der Flugroute gegeben, denen könne der Copilot auch ausgewichen sein. Üblicherweise tue man dies nach unten.

Luftfahrtexperte Tim van Beveren wertete die Ermittlungsakten aus.
Luftfahrtexperte Tim van Beveren wertete die Ermittlungsakten aus.

© AFP

Man müsse also ein „alternatives Unfallszenario“ in Betracht ziehen. Welches denn? „Da muss ich Sie leider enttäuschen.“

Beveren möchte, dass wieder ermittelt wird. Er sagt, er habe noch mehr Unstimmigkeiten bei seiner Recherche gefunden, die Behörden seien informiert.

Günter Lubitz sitzt die ganze Zeit daneben. Als Beveren fertig ist, sagt er noch einmal: „Mit diesem Gutachten sind wir auf der Suche nach der Wahrheit.“

Einer seiner Anwälte, zuständig für presserechtliche Aspekte, sagt: „Diese Pressekonferenz ist ein singulärer Vorgang.“ Das ist sie in der Tat. Angehörige, vor allem Eltern von Menschen, denen mutmaßlich oder nachgewiesen schwere Verbrechen wie zum Beispiel Amokläufe zugerechnet werden, verhalten sich in aller Regel so, wie Günter Lubitz es die vergangenen zwei Jahre tat. Sie versuchen unsichtbar zu werden. Manche legen sich neue Namen zu, ziehen um, manche brauchen auch Polizeischutz.

Ihr Sohn sei krank gewesen, sie habe sein Leid nicht gesehen und seinen Hass

Sie haben mit sich selbst zu kämpfen. Was haben wir übersehen, fragen sie sich, wie war unser Sohn zu einer Tat wie dieser fähig? Wer war er?, immer wieder. Müssen wir auf Vergebung hoffen? Gibt es überhaupt etwas, was man uns vergeben müsste? Den Eltern von Robert Steinhäuser erging es so, der im Jahr 2002 im Erfurter Gutenberg-Gymnasium elf Lehrer, eine Referendarin, eine Sekretärin, zwei Schüler, einen Polizisten und anschließend sich selbst tötete.

Auch Sue Klebold, die Mutter eines der Amokläufer an der amerikanischen Columbine Highschool rang mit sich. Im vergangenen Jahr kam ein Buch von ihr heraus, aus dem hervorgeht, dass sie auf ihre Fragen mittlerweile Antworten gefunden hat. Ihr Sohn sei krank gewesen, und sie habe sein Leid nicht gesehen und seinen Hass. Das sei ihr Versagen und ihre Verantwortung. Für dessen Taten allerdings, dafür könne sie nichts. Das war er ganz alleine.

In aller Regel ist eine der ersten Handlungen solcher Eltern, sich an die Hinterbliebenen der Opfer ihres Kindes zu wenden, ihnen ihr Mitgefühl zu signalisieren. Die Lubitz’ taten dies nicht.

Die Pressekonferenz macht noch einmal klar, warum dies bei den Piloteneltern anders ist. Amokläufer sind Massenmörder. Und ein Massenmörder ist ihr Sohn in ihren Augen nicht.

Ein kalter Hauch weht durch den Saal, als einer der Reporter noch einmal nach den Gründen für die Wahl des Termins am Jahrestag fragt. Lubitz sagt: „Ich habe diese Frage in meinen ersten Ausführungen umfassend beantwortet.“

Am Jahrestag trafen sich Angehörige der Opfer des Germanwings-Flugs in der Nähe der Absturzstelle in Frankreich.
Am Jahrestag trafen sich Angehörige der Opfer des Germanwings-Flugs in der Nähe der Absturzstelle in Frankreich.

© AFP

Kurz vor 13 Uhr endet die Veranstaltung im Hotelsaal Nummer 3. Vor zwei Jahren hatte ihn zur selben Uhrzeit bereits seine Frau angerufen, sagt Günter Lubitz. Eine Germanwings-Maschine sei abgestürzt, habe sie gehört. Beide wussten, dass ihr Sohn an diesem Tag Dienst hatte.

In Frankreich, bei den 500 anderen, wird an diesem Freitag eine Gedenkskulptur enthüllt. In Haltern in Nordrhein-Westfalen findet im Joseph-König-Gymnasium eine weitere Gedenkfeier statt. Unter den 150 Toten waren 16 Schülerinnen und Schüler und zwei Lehrerinnen. Alle Kirchenglocken der Stadt läuten, am Abend wird es einen Gottesdienst geben.

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