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Geschichte: Wo Luther zuschlug

Harald Martenstein reist an berühmte Schauplätze der Weltgeschichte. Der Start unserer Serie führt ihn nach Wittenberg, zu Martin Luther. Dort stellt er verblüfft fest: In dieser Stadt ist nichts, wie es scheint – selbst das mit den Thesen und der Kirchentür ist umstritten.

Deutschland wird bekanntlich von einer Pfarrerstochter aus dem Osten regiert. Der Bundespräsident ist ebenfalls ein Pfarrer aus dem Osten. Das heißt, Wittenberg ist plötzlich so eine Art geistige deutsche Hauptstadt geworden. Denn in Wittenberg ist das Rollenmodell „evangelischer deutscher Pfarrer“ ja erfunden worden, von Martin Luther und seinen Freunden. Außerdem war Wittenberg, ähnlich wie später Weimar, eine Zeitlang das Zentrum des deutschen Geisteslebens, the place to be für Philosophen, Wissenschaftler und Künstler.

Sie nannten Wittenberg: das Rom der Protestanten.

Heute hat das ostdeutsche Rom knapp 50 000 Einwohner, mit sinkender Tendenz. Es gehört zum Bundesland Sachsen-Anhalt und ist mit dem ICE von Berlin aus in nur 40 Minuten zu erreichen. Vom Bahnhof gelangt man dann zu Fuß in zehn Minuten in die Altstadt, die in einem recht ausgewogenen Verhältnis aus renovierten und verfallenden Häusern sowie Baustellen besteht, dazwischen ein paar Brachflächen. Etliche Geschäfte stehen leer. Die geöffneten Läden haben sich meist auf das untere Preissegment spezialisiert.

Wittenberg ist keine Boomstadt, das sieht man. Eine Sushi-Bar gibt es hier inzwischen aber auch. Und neben den Bürgersteigen fließen hübsche kleine Bäche, wie im süddeutschen Freiburg, in beiden Fällen Reste der mittelalterlichen Kanalisation. Anlass zur Hoffnung gibt die nahende Jahreszahl 2017, dann sollen 500 Jahre Reformation gefeiert werden, weltweit, aber ganz besonders in Wittenberg. Deshalb die vielen Baustellen.

Um 1500 war Wittenberg noch viel kleiner, 2000 Einwohner gab es. Eine Spezialität dieses Städtchens scheinen drollige Fürstennamen gewesen zu sein. In Wittenberg regierten in enger zeitlicher Nachbarschaft Friedrich der Streitbare, Friedrich der Sanftmütige, Johann der Beständige und Johann Friedrich der Großmütige. Am besten ist Friedrich der Weise in Erinnerung. 1502 gründete er die erste nichtkirchliche Universität in Deutschland. Eigentlich war die Gründung von Universitäten ein Monopol der Kirche.

Fortan besaß Wittenberg eine magnetische Wirkung auf Intellektuelle. 1505 kam der Maler Lucas Cranach, 1508 übernahm der Theologe Martin Luther einen Lehrstuhl, 1518 zog der Philosoph Philipp Melanchthon in die Stadt, später lehrte hier auch Gotthold Ephraim Lessing. Wittenberg wurde außerdem ein Zentrum des Buchdrucks. Am 31. Oktober 1517 nagelte Luther seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche. Das endgültige Ende der Blütezeit lässt sich ebenfalls genau datieren. 1817, Wittenberg gehörte inzwischen zu Preußen, ließ Friedrich Wilhelm III. die Universität schließen und verwandelte, jeder Zoll ein Preußenkönig, die Unigebäude in Kasernen.

Offiziell heißt die Stadt inzwischen „Lutherstadt Wittenberg“, was man für ein geistiges Erbe der DDR zu halten geneigt ist und für ziemlich dusslig – als ob man Weimar in „Goethe-Schiller-Stadt“ umbenennt, Mainz in „Gutenbergstadt“ oder Templin in „Angela-Merkel-Stadt“. Aber nein, die Umbenennung wurde bereits 1922 beschlossen.

Das erste Zeugnis des goldenen Zeitalters, beim Betreten der Altstadt, ist die Luther-Eiche. Sie wurde dort gepflanzt, wo Martin Luther einst einen Drohbrief des Papstes öffentlich verbrannt hat. Der Papst erklärte Luther anschließend endgültig zum Ketzer, er galt als vogelfrei, jeder durfte ihn töten. Der Papst war extrem verärgert. Die Original-Eiche wurde allerdings in den napoleonischen Kriegen gefällt, als die Preußen Wittenberg belagerten und der französische Stadtkommandant, sowieso katholisch, ein freies Schussfeld für seine Truppen schaffen wollte. Heute steht da nur noch eine Ersatz-Eiche, mit einer steinernen Bank und einer Aufschrift darüber: „Habe stets Gutes im Sinn.“

Dann erreicht man das Lutherhaus. Dort hat er gewohnt, zuerst allein, als Mönch und Theologieprofessor, später, als er dann evangelisch war, mit seiner Frau Katharina, genannt Käthe, und den zahlreichen Kindern. Das Lutherhaus beherbergt ein brandneues und informatives Museum. Die Besucher kommen vor allem aus Berlin, aus den USA und aus Südkorea. Sagt die Dame an der Kasse. Südkoreaner seien große Lutherfans. In den USA trägt sogar eine christliche Satirezeitschrift den Namen „The Wittenburg Door“, leider ist der Name der Stadt im Titel falsch geschrieben.

Zu sehen sind in dem Museum meist Bilder und Bücher. Aus dem Fenster fällt der Blick auf zerbröselte Gebäudereste, dort hat sich in einem Nebenhaus mal Luthers Arbeitszimmer befunden. Es wurde um 1840 herum abgerissen. Auch in dem Wohnraum ist, bis auf den Kachelofen, eigentlich nichts mehr original. Der Holztisch, an dem Luthers berühmte Tischgespräche stattfanden, musste erneuert werden, weil Souvenirjäger allzu viele Stückchen abgehobelt hatten.

Erst die Eiche, weg, dann das Arbeitszimmer, perdu, dann die Wohnung, futsch – der Protestantismus hat Pech mit seinen Gedenkstätten. In Weimar könnten Goethe und Schiller heutzutage jederzeit wieder in ihre fast unveränderten alten Wohnungen einziehen und sich an ihre alten Schreibtische setzen. In Wittenberg ist sogar der große Hörsaal der Universität nur eine Rekonstruktion, beendet 1967. Luthers Zeit ist länger her als die Zeit Goethes, stimmt schon.

Es hängt aber wohl auch mit dem protestantischen Geist zusammen, der zur Kargheit und Strenge tendiert und Bilder skeptisch beurteilt, offenbar auch Bilder der Vergangenheit. In einem Text, der im Museum zu lesen ist, äußert Stefan Rhein, Direktor der Stiftung Lutherstätten, den Gedanken, dass der Protestantismus keine „Theorie des Ortes“ besitze. Die Evangelischen waren von Anfang an gegen Sentimentalitäten und Kitsch, gegen die Vermischung von Religion und Magie, für Glauben pur. Da ist es natürlich nur konsequent, wenn Luthers Arbeitszimmer abgerissen wird. Unter touristischen Gesichtspunkten kann Glauben pur aber ein schweres Handicap sein.

Martin Luther ist ein fleißiger Viel- und Schnellschreiber gewesen, der auch vor Liedtexten und Fabeln nicht zurückschreckte. Die Übersetzung des Neuen Testaments, diesen Meilenstein nicht nur der Theologie, sondern auch der Literatur, hat er in elf Wochen hinbekommen. Kein einziger Dichter hat die deutsche Sprache so bereichert wie der Theologe Martin Luther, fast jeder richtig gute bildhafte Ausdruck geht auf Luther zurück – Bluthund, Machtwort, Schandfleck, Lückenbüßer, Lockvogel, auch „Perlen vor die Säue werfen“, „ein Herz und eine Seele“ oder „die Zähne zusammenbeißen“.

1521 wurde er vor die Reichsstände in Worms zitiert, er sollte seine Ideen widerrufen. In Worms fiel eines der bekanntesten Lutherzitate: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Denkt man. In Wirklichkeit wurde diese prägnante Formulierung erst später in seine Wormser Rede hineinredigiert, von wem, ist unbekannt. Luthers wichtigster Gegenspieler war der Mönch Johann Tetzel. Für seinen Freund, den Erzbischof von Magdeburg, hat Tetzel Ablassbriefe verkauft. Ein Ablassbrief befreite den Käufer angeblich von seinen Sünden, gegen diese Geschäftsidee protestierte Luther mit den 95 Thesen. Der Erzbischof wollte, neben Magdeburg, unbedingt noch ein zweites Bistum regieren, dies war nur durch Zahlung einer größeren Geldsumme an den Papst zu erreichen, der Fachbegriff dafür hieß „Handsalbe“. Zur Finanzierung der Handsalbe nahm der Erzbischof einen Kredit auf. Einen Teil des Geldes, das durch die Ablassbriefe hereinkam, benutzte der Erzbischof, um seinen Kredit zu finanzieren.

Im Vergleich zwischen dem wortgewaltigen Luther und dem in Finanzdingen mit allen Wassern gewaschenen Tetzel erkennt man, wenn man großzügig ist, ein bisschen was von Joachim Gauck und Christian Wulff wieder.

Heute leben etwa 2800 Nachfahren der Familie Luther. Fest steht, dass der Familienname noch bis 1512 oft „Lotter“ oder „Luder“ geschrieben wurde. Es gehört also zu den glücklichen Zufällen der Glaubensgeschichte, dass die Lutheraner heute Lutheraner heißen und sich nicht Luderer oder Lotteraner nennen müssen.

Zwei andere Wendepunkte in Luthers Biografie gelten dagegen als umstritten. Angeblich hat der Reformator bei einem schweren Gewitter die Eingebung gehabt, dass er nach Gottes Meinung Theologie studieren sollte, gegen den Wunsch seiner Eltern. Die ersten Reformationsideen überkamen ihn angeblich ebenso plötzlich, dies war das sogenannte Turmerlebnis. Heutige Forscher vermuten, dass es sich in beiden Fällen um nachträgliche Dramatisierungen zum Zweck der Image-Verbesserung handelt.

Im Keller des Lutherhauses erfahren die Besucher etwas über Luthers Alltag. Im Stadtgraben wurden immerhin umfangreiche Müllbestände entdeckt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von Käthe weggeworfen wurden, darunter Gänseknochen, die der große Reformator womöglich persönlich abgenagt hat. Er war auch ein großer Esser und litt unter einem Gewichtsproblem. Es gab aber auch zahlende Gäste bei den Luthers, Käthe vermietete Zimmer an Studenten. Sie braute Bier, und zwar reichlich, jährlich verbrauchte die Familie 4500 Liter, obwohl Martin selbst auch ein fleißiger Weintrinker gewesen ist, da ähnelt er Goethe und nicht dem Ideal der Kargheit. Dass sich im Müll auch Glasscherben fanden, beweist, dass Luthers nicht sparen mussten. Glas war extrem teuer.

Vom Lutherhaus ist es nicht weit nach St. Marien, der Stadtkirche, wo 1521 Justus Jonas der Ältere und Andreas Bodenstein die erste evangelische Messe gelesen haben, auf Deutsch statt auf Lateinisch und in ganz normaler Alltagskleidung, nicht in Liturgiegewändern. 2000 Gläubige waren gekommen, das heißt, die gesamte Stadt. In der Kirche steht, ein bisschen überraschend, ein Fernseher, wo nonstop evangelische Videos gezeigt werden. Die Kirche ist eingerüstet, bis zum Jubiläum 2017 soll sie komplett renoviert werden. Deshalb kann auch die „Judensau“ zur Zeit nicht besichtigt werden. Die „Judensau“ ist ein Relief aus Sandstein. Es zeigt ein Schwein und einige Juden, die mit ihm auf verschiedene Weisen Geschlechtsverkehr haben. Darüber steht etwas auf Hebräisch, ein im jüdischen Verständnis heiliger Text. „Judensäue“ an Kirchen waren im christlichen Mittelalter weit verbreitet, eine Methode, um Juden öffentlich zu demütigen, denn das Schwein gilt ihnen als unrein.

Vor der Wittenberger Sau befindet sich inzwischen ein antirassistisches Mahnmal. Dass auch Luther sich vehement antisemitisch geäußert hat, wird im Museum nicht verschwiegen, auf Textbeispiele hat man allerdings schamhaft verzichtet.

Den Höhepunkt jeder Wittenberg-Tour bildet selbstverständlich die Schlosskirche. Sie gehörte in Luthers Zeit zur Universität und diente als Audimax, hier wurden akademische Reden gehalten sowie Diskussionen veranstaltet. Dass Luther ausgerechnet an dieser Kirchentür seine Thesen anschlug, klingt naheliegend.

Erste Überraschung: Die weltberühmte Schlosskirche gibt es gar nicht mehr. Sie ist 1760 zerstört worden, im Siebenjährigen Krieg. 1770 wurde ein Neubau eröffnet, dummerweise fiel auch der Neubau 1814 einem Krieg zum Opfer. Womit man es heute zu tun hat, ist ein Gebäude von 1892, neugotisch, sozusagen die Kopie der Kopie, nein, nicht direkt eine Kopie, denn die Originalkirche sah sicherlich anders aus.

Die Tür stammt natürlich ebenfalls aus neuerer Zeit und ist aus Bronze. Die 95 Thesen sind darauf abgebildet, naturgemäß in kleiner Schrift, das ist schließlich eine Menge Text. Ein Gitter hält die Besucher auf Distanz, schätzungsweise drei Meter. Lesen kann man gar nichts, klar, das ist alles schon ein wenig enttäuschend. Das Allerenttäuschendste ist aber die Erkenntnis, dass Luther seine Thesen womöglich überhaupt nicht hier angeschlagen hat. Der weltberühmte Moment ist nämlich von keinem einzigen Augenzeugen oder Zeitgenossen je bezeugt worden. Er wird lediglich, mehr als 20 Jahre später, von Luthers Sekretär in seinen Notizen erwähnt und gilt unter Historikern folglich als ganz und gar unbewiesen. Es könnte sich, ähnlich wie im Falle des Turmerlebnisses, um einen weiteren von Martin Luther in die Welt gesetzten Mythos handeln. Er war offenbar ein geschickter Dramaturg seiner Biografie.

Gut reden und gut Geschichten erfinden konnte er ja, das ist unstrittig.

Wenn man die leidenschaftliche Debatte über den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses kennt, dieses Ringen um Begriffe wie „Original“ und „Authentizität“, dann wird einem in Wittenberg ganz schwindlig. Hier stimmt ja gar nichts. Aber vielleicht spiegelt sich in Wittenberg ja auch der nüchterne Pragmatismus der Pfarrerstochter Angela Merkel. Unter ihrer Regie ist vom CDU-Programm schließlich genauso wenig übrig geblieben wie in Wittenberg von der Schlosskirche, der Luther-Eiche und dem Arbeitszimmer Luthers.

Es kommt auf das Ergebnis an. Die Touristen scheint es nicht zu stören. Immerhin werden jährlich mehr als 100 000 Übernachtungen gezählt, und für viele Amerikaner ist auch das Jahr 1892 schon lange her und im Grunde Mittelalter.

In der nächsten Folge der Serie reist unser Autor ins antike Italien.

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