zum Hauptinhalt

Panorama: Gespenstische Stille nach dem Unglück

WUPPERTAL ."Das geht doch gar nicht.

WUPPERTAL ."Das geht doch gar nicht." Entsetzt starren Passanten gestern früh am Robert-Daum-Platz im Stadtteil Elberfeld in die Wupper: 50, 60 Meter entfernt von ihnen liegt ein völlig zertrümmerter Zug der Schwebebahn im Wasser.Entgleist und acht Meter tief abgestürzt in den Fluß.Feuerwehrleute, Notärzte, Sanitäter, Polizisten und Arbeiter einer benachbarten Fabrik bemühen sich fieberhaft, die Verletzten aus dem Trümmerhaufen und dem eiskalten Fluß zu bergen.Dampf zischt aus der geborstenen Fernwärmeleitung.Die Opfer wirken völlig apathisch.Ein Polizist, der durch die Wupper gewatet war, trägt eine Leichtverletzte Huckepack.

"Als wir am Absturzort eintrafen, herrschte gespenstische Stille, es waren keine Schreie zu hören." Notarzt Klaus Westhoff gehörte zu den ersten Helfern, die an diesem trüben Frühlingsmorgen an der Unglücksstelle mitten in der Wuppertaler City eintrafen."Die meisten Opfer standen unter Schock", berichtet der Feuerwehrarzt.Mit weiteren elf Ärzten übernimmt Westhoff die Versorgung der Opfer: Die Verletzten werden in zwei benachbarte Gebäude und ein Zelt gebracht, das die Feuerwehr in einer Unterführung aufgeschlagen hat.Für zwei Männer kommt jedoch jede Hilfe zu spät: Sie können nur noch tot aus dem Wrack geborgen werden; die Leiche einer Frau wird von der Wupper weggeschwemmt und erst Stunden nach dem Unfall gefunden.

Gestern früh ist in Wuppertal das Undenkbare passiert: Die Schwebebahn, das sicherste Verkehrsmittel der Welt, ist heruntergestürzt.Dabei starben drei Menschen.59 erlitten teils schwere Verletzungen.Undenkbar war die Katastrophe offenbar auch für die Polizei."Da habe ich eine Minute nach dem Unfall angerufen", berichtete ein Ohrenzeuge, der an der Absturzstelle wohnt, "der Beamte am Telefon hat laut gelacht." Als dann weitere Notrufe eingingen, wurde ihm klar, daß die Meldung stimmte.

Rettungswagen um Rettungswagen wird zum Unglücksort hinter einem Bankhochhaus geschickt.Nur eine kleine Gasse führt zwischen zwei Häusern an die Ufermauer.Dorthin paßt nur eine Drehleiter der Feuerwehr.Die Bergung ist mühselig.Die Hausmeister der Bank schalten schnell: Aus Konferenzräumen im Erdgeschoß wird ein erstes Lazarett, Notärztinnen untersuchen die völlig verstörten Opfer.Wer ist am schwersten verletzt und muß so schnell wie möglich in ein Krankenhaus? Viele Menschen stöhnen vor Schmerzen, die meisten von ihnen bluten.Das nahe Ferdinand-Sauerbruch-Klinikum nimmt die ersten Patienten auf."An mir schoß ein Mann auf dem Bauch liegend über den Boden des Waggons nach vorne", berichtet eine Gerettete.Danach kommt sie erst wieder zu sich, als der Zug im Wupperbett liegt."Es hat unglaublich geknallt.Dann war es erst einmal still", berichtet einer der Hausmeister.Immer neue Rettungskräfte treffen in Elberfeld ein.Die Bundesstraße 7 wird zum Landeplatz für drei Rettungshubschrauber.Zwei Todesopfer hat man in ein separates Treppenhaus gebracht."Viele Verletzte haben Knochenbrüche, Prellungen und Schnittwunden", sagt Hella Körner-Göbel, leitende Notärztin des Wuppertaler Rettungsdienstes."Einige sind selbst aus dem Wrack herausgeklettert und durch die Wupper ans Ufer gewatet."

Während Feuerwehrleute die Bergungsarbeiten am Wrack des Gelenkzuges unten in der Wupper fortsetzen, wandert der Blick der zahlreichen Neugierigen immer wieder nach oben zur Führungsschiene der Bahn.Genau an der Stelle, an der die Kabine auf der Fahrt vom Stadtteil Vohwinkel nach Oberbarmen abgestürzt ist, sind deutlich die Umrisse der Metall-Kralle zu erkennen.Wie die Wuppertaler Stadtwerke als Betreiber der Schwebebahn später einräumen, ist die Kralle Bestandteil einer Konstruktion, die aus statischen Gründen während der Bauarbeiten montiert wird - und natürlich vor Freigabe der Strecke wieder abgebaut werden muß.Die Kralle hatte niemand demontiert.Sie hat den Absturz ausgelöst, sagt die Staatsanwaltschaft.Erst zehn Minuten, bevor der erste Zug an diesem Morgen startete, war die Strecke von den Bauleuten geräumt worden.

Bislang sicherstes Verkehrsmittel der Welt

Die Schwebebahn in Wuppertal hat sich in fast hundert Jahren Betrieb einen Ruf als sicherstes Verkehrsmittel der Welt erworben.80 000 Fahrgäste täglich machen die auf einer 13,3 Kilometer langen Trasse zumeist entlang der Wupper schwebende Bahn zum wichtigsten öffentlichen Verkehrsmittel der 380 00-Einwohner Stadt.Die rund 20 Jahre alten Schwebebahn-Wagen fahren mit einer Durchschnittsgeschwindgkeit von 27 km/h und brauchen eine halbe Stunde für die ganze Strecke.Seit 1997 wird die Schwebebahn für eine halbe Milliarde Mark schrittweise renoviert.

Seit ihrer ersten offiziellen Fahrt im Jahr 1901 gab es nur wenige Unfälle.Sie hatten vor dem Ereignis gestern keine Todesopfer zur Folge.Kurz vor der Fertigstellung des fast 20 000 Tonnen schweren Stahlgerüsts im Jahr 1900 erfaßte ein Probezug einen Bauern auf seinem Heuwagen und schleuderte ihn aufs Pflaster.1917 stürzte nach dem Zusammenstoß zweier Schwebebahnzüge ein Wagen in die Wupper.Einige Fahrgäste wurden leicht verletzt.

1981 wurde ein Wagen der Bahn von einem Lampenmasten aufgerissen, den ein Lastwagen über die unter der Schwebebahnstrecke liegende Straße transportierte.Verletzte gab es nicht.

Bei einem Auffahrunfall zweier Bahnen im März 1997 erlitten 14 Menschen Verletzungen.Die Opfer waren Insassen des historischen "Kaiserwagens".Einen weiteren Auffahrunfall gab es im November 1998 in einer Haltestelle: Dabei wurden zehn Menschen verletzt, unter ihnen vier Kinder. Tsp

Ein schlimmer Schlag in das Gemüt der schwebebahnbesessenen Wuppertaler

Der Mythos vom sichersten Verkehrsmittel der Erde ist zerstört, der Schock sitzt tief - obendrein glauben manche Außenstehende nicht an die Fahrt von Elefant "Tuffi"

VON FRANK JANSEN

Ein Mythos ist zerbrochen.Als gestern früh in Wuppertal der Schwebebahnzug Nr.4 abstürzte, bekam die ganze Stadt einen Knacks.Auch wenn es angesichts von Krieg und Flüchtlingselend makaber klingt: Dieses Unglück ist für die Wuppertaler der größte anzunehmende Unfall.Was die Stadt empfindet, läßt sich wohl nur mit dem Entsetzen vergleichen, das die Bevölkerung von Paris beim Einsturz des Eiffelturms ergreifen würde."Es ist unfaßlich, daß so etwas passieren konnte", "wir sind völlig niedergeschlagen", "das ist schlimmer als der Tod von Prinzessin Diana" - so lauteten erste Telefonreaktionen, die man als in Berlin lebender Diaspora-Wuppertaler zu hören bekam.Für Oberbürgermeister Hans Kremendahl, einst Wissenschaftsstaatsekretär im rot-grünen Senat von Berlin, ist der Gemütsschaden für Wuppertal "noch gar nicht abzusehen".Drei Tote, fast exakt 100 Jahre nach den ersten Probefahrten im Dezember 1898 - um 5 Uhr 45 hat sich ein Stück Urvertrauen verflüchtigt.

Die Schwebebahn gilt "imm Taal" nicht nur als ungewöhnliches und bis gestern "sicherstes Verkehrsmittel der Welt"."Sie ist die Lebensader, das Herz und die Seele der Stadt Wuppertal", heißt es bereits in der zweiten Zeile eines 1984 erschienenen, opulenten Bildbands über das Wahrzeichen der Stadt.Die intime Beziehung der Wuppertaler zu ihrer Schwebebahn ist für Außenstehende kaum zu begreifen.Versuche, die Verbundenheit von Mensch und Ungetüm mit dem Hinweis auf Kurventechnik und andere Einzigartigkeiten zu erklären, greifen zu kurz.Der Erfinder der Schwebebahn, der Kölner Ingenieur Carl Eugen Langen, hat Wuppertal nicht nur einen Tourismusmagneten für die Ewigkeit beschert, sondern auch das identitätsstiftende Symbol schlechthin.Wuppertal entstand erst 1929, vor allem aus den Kaufmannsstädten Elberfeld und Barmen.Der mentale Kontrast war enorm: Das rein-westfälische Barmen verband sich wider Willen mit dem rheinisch-westfälischen Elberfeld.Noch heute scheint eine unsichtbare Demarkationslinie die Stadthälften zu trennen.Die Schwebebahn rattert einfach darüber weg.

Ähnlich dem Sturm-und-Drang einer spätgeborenen Nation kommt der Wuppertaler Lokalpatriotismus besonders heftig daher.Wer zwischen Vohwinkel und Oberbarmen von einer "Hängebahn" spricht, ist sofort als Fremder entlarvt und muß ein dröhnendes "Schwe-be-bahn!" über sich ergehen lassen.Noch weniger Humor ist zu erwarten, wenn jemand die Geschichte von "Tuffi" anzweifelt.Das Elefantenmädchen wurde am 21.Juli 1950 als Werbegag in die Schwebebahn gepfercht.In der Nähe des Bahnhofs Adlerbrücke hatte das Tier endgültig genug von der Schaukelei.Tuffi drückte eine Bordwand des Schwebebahnwagens ein und plumpste in die Wupper.Der kleine Elefant kam mit einer Schramme davon.Anfang der 90er Jahre wurde Tuffi, längst zur voluminösen Dame gereift, von einem französischen Zirkus in Berlin präsentiert.Ohne jeden Hinweis auf die Schwebebahn-Episode.Das hat den Diaspora-Wuppertalern zu schaffen gemacht.

Übler noch stößt jedem Lokalpatrioten das Face-Lifting der Schwebebahn auf.Das Gerüst wird ausgetauscht, die alten, heimeligen Bahnhöfe, darunter Jugendstilraritäten, sind zum Teil schon abgerissen.Nur fünf werden "in historischer Gestalt" wieder aufgebaut, wie es offiziell heißt.Gegen diesen Frevel lief eine Bürgerinitiative Sturm, doch zu spät.Bald bleibt von der alten Schwebebahn nur noch der "Kaiserwagen" übrig, mit dem Wilhelm II.am 24.Oktober 1900 von Elberfeld nach Vohwinkel ruckelte.Der restaurierte Zug wird gern für Vergnügungsfahrten gebucht.Vor allem Hochzeitspaare drängt es nach Standesamt oder Kirche zur Fahrt zwischen Vohwinkel und Oberbarmen.Wuppertal wäre allerdings nicht Wuppertal, würde sich daran, trotz des Schocks, auf Dauer etwas ändern.

JENS PETER IVEN

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false