zum Hauptinhalt

Gesundheit: Ärzte wollen aus Fehlern lernen

In manchen Kliniken will man mit Irrtümern offener als bisher umgehen – zum Nutzen des Patienten

Die eigene Operation wach miterleben, Zunge und Glieder gelähmt, wehrlos gegen den schneidenden Schmerz – ein Albtraum. Für den beleibten Herrn M. war das Realität, und auch anderen Übergewichtigen ist es passiert. Denn Narkosemittel werden meist nach Schema F dosiert, bezogen aufs Normalgewicht. Korpulente bekommen daher oft zu wenig, weil Ärzte meinen, „Fett muss man nicht betäuben“. Falsch, sagte Walter Schaffartzik, Unfallkrankenhaus Berlin, in einem Vortrag des Berliner-Krankenhaus-Seminars. Auch Fettgewebe wird durchblutet.

Als ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle, die von den neun norddeutschen Ärztekammern (auch Berlin) seit 1976 in Hannover unterhalten wird, kennt sich der Anästhesist aus mit „Kunstfehlern“. Der größte Teil dieser (vermuteten) Diagnose- und Therapiefehler – fast zwei Drittel – wird aus den operierenden Fächern wie Chirurgie, Orthopädie oder Gynäkologie gemeldet. Weil sie dort den Patienten am ehesten auffallen? Studien ergaben, dass die meisten Fehler nicht bei Operationen gemacht werden, sondern bei Medikationen, also bei der Arzneibehandlung.

Irrtümer kommen überall vor, wo Menschen arbeiten, völlige Fehlerfreiheit wird es nie geben. Was aber neu und sehr positiv ist: Ärzte hören allmählich auf, ihre Fehler zu vertuschen und die unfehlbaren Halbgötter zu spielen. Sie fangen an, über ihre Fehler und Beinahe-Fehler zu reden und suchen Wege, sie künftig zu vermeiden. Grobe, folgenschwere Behandlungsschnitzer, Gegenstand der Schlichtungsstellen und Gerichte, sind glücklicherweise zu selten, als dass ein einzelnes Krankenhaus aus den eigenen Irrtümern lernen könnte. In der für ihre Qualitätssicherung bekannten Park-Klinik Weißensee in Berlin zum Beispiel hat man dies daher vergeblich versucht.

Jetzt haben die Landesärztekammern beschlossen, die Fehlerdaten aus sämtlichen Schlichtungsstellen in Hannover zusammenzuführen. Etwa 40000 Verdachtsfälle melden ihnen Patienten jährlich, 12000 davon werden als Behandlungsfehler anerkannt.

Das Eingangsbeispiel war da eigentlich eher untypisch. Denn die meisten Fehler sind nicht Folge mangelnden Fachwissens. Sie entstehen vielmehr duch unzureichende Kommunikation der Beteiligten und schlechte Organisation der Arbeitsabläufe; nicht nur in der Medizin, sondern überall in der Wirtschaft. In besonders gefahrenträchtigen Bereichen wie der Luft- und Raumfahrt perfektioniert man deshalb nicht nur die Sicherheitstechnik, sondern man schult vor allem die Crews in reibungsloser Zusammenarbeit. Und man führte Systeme zur anonymen und sanktionsfreien Meldung von Fehlern und Beinahe-Fehlern ein, um daraus zu lernen.

Die Luftfahrt war mit ihrer Strategie zur Fehlervermeidung so erfolgreich, dass die Rate der Flugzeugabstürze drastisch sank. „Die Medizin braucht das nur noch zu kopieren“, sagte Daniel Scheidegger, Anästhesie-Chef am Baseler Universitäts-Klinikum, beim Berliner Krankenhaus-Seminar, und fing in seiner Abteilung an. Inzwischen haben sich die Baseler Maßnahmen zur Patientensicherheit auch anderswo in der Schweiz ausgebreitet und erreichen nun Deutschland: Training zusammen mit der Nasa im Teamverhalten bei simulierten Operationen, Untersuchung der Schwachstellen in der Zusammenarbeit (wie zum Beispiel Verwechslung von Patienten, Operation der falschen Seite, falsche Wahl oder Dosierung von Arzneimitteln) und gemeinsame Analyse der Ursachen.

In Berlin zeigen sich die in einem Verein zusammengeschlossenen Evangelischen Krankenhäuser als Avantgarde. Am weitesten ist das Elisabeth-Krankenhaus. Wie der dort tätige Kinderarzt Matthias Albrecht dem Tagesspiegel berichtete, läuft die anonyme Meldung von Fehlern und Fast-Fehlern nach Baseler Vorbild bereits recht gut. Anfangs gab es ein paar Datenschutz-Probleme, dann stieg man vom Intranet ins Internet um und verschlüsselte die Leitung, jetzt ist die Anonymität gewährleistet. Das ist wichtig, denn, so sagt Scheidegger: „Wenn der Chefarzt drohend sagt: ,Diesen Fehler will ich nie wieder sehen!’ dann wird er ihn auch nicht mehr sehen, weil er vertuscht wird.“

In Dänemark gilt seit 2004 ein Patientensicherheitsgesetz, das Ärzte zur vertraulichen Meldung von Fehlern und Beinahe-Fehlern verpflichtet und eine Bestrafung der Meldenden untersagt.

Die Fehlervermeidung auf die Tagesordnung des letzten Deutschen Ärztetages zu bringen, gelang Berlins Ärztekammerpräsident Günther Jonitz. Nicht „Wer war schuld?“ sondern „Was war schuld?“ habe man zu fragen. Das kann Ärzte und Schwestern entlasten. Matthias nannte ein Beispiel: Medikamente sind sehr leicht zu verwechseln, wenn Namen oder Packungen sich stark ähneln.

Das ist oft sogar Absicht: Die Hersteller wollen ihre Produkte als firmeneigen erkennbar machen. Wenn ein halbes Dutzend Arzneimittelnamen mit „Bay“ beginnt und die Schwester die Doktorhandschrift falsch entziffert, ist es passiert. Im Elisabeth-Krankenhaus verordnet man deshalb nur noch Wirkstoffe und vermeidet Präparatenamen.

Nützlich ist auch die elektronische Verordnung. In einer Bostoner Studie senkte dies die Fehlerzahl um 81 Prozent, auch, weil die Software vor bestimmten Risiken warnt. Gewarnt wird allerdings auch vor dem Risiko, eine mit subtiler Schleichwerbung durchsetzte elektronische Verordnungshilfe zu benutzen. An den Universitäten Ulm und Heidelberg und vor allem in einem großen Pilotprojekt des Klinikums Saarbrücken werden aber unabhängige Verordnungshilfen entwickelt und erprobt. Eine lohnende Investition: Eine Studie des Uni-Klinikums Erlangen ergab, dass 3,8 Prozent der internistischen Patienten wegen Arzneimittelschäden aufgenommen wurden. Nebenwirkungen beruhen oft auf falscher Anwendung durch Ärzte oder Patienten. Und die echten Nebenwirkungen eines Medikaments?

„Mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit wird eine unerwünschte Arzneimittelwirkung nicht anerkannt, sondern mit einem weiteren Medikament behandelt“, heißt es in einem Beitrag im „Deutschen Ärzteblatt“. Gefährlich seien aber auch irrationale Ängste vor der Arzneibehandlung, denn vermutlich kämen mehr Patienten durch die Nichteinnahme verordneter Mittel als durch Nebenwirkungen zu Schaden.

Drei Ereignisse dieses Jahres lassen Verbesserungen erhoffen: Die europaweite „Berliner Deklaration zur Pharmakovigilanz“ (Arzneimittelüberwachung), der erste „Deutsche Kongress für Patientensicherheit bei medikamentöser Therapie“ und die Gründung des „Aktionsbündnisses Patientensicherheit e.V.“ eines Netzwerkes aller Partner im Gesundheitswesen, Patientenvertreter eingeschlossen.

Mit den dringendsten Arbeiten will man dort rasch beginnen: Mit Kursen zur Fehlervermeidung, Konzepten für benutzerfreundliche Fehlerberichtssysteme und mit drei konkreten Projekten: Wie verhindert man die Verwechslung von Patienten, die Seitenverwechslung beim Operieren und Fehler in der Arzneitherapie? So viele Systeme, Deklarationen und Institutionen stimmen den Sicherheitspraktiker Scheidegger eher skeptisch: Ist die Fehlerfahndung womöglich nur eine medizinische Mode, die auch wieder abklingt?

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false