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Gesundheit: Alkoholabhängigkeit: Im Strudel der Sucht

Auch wenn Rüdiger Salloch-Vogel seit 22 Jahren als Arzt und Psychotherapeut gegen die Süchte von Menschen ankämpft, lassen ihn Szenen wie diese nicht kalt: Zur Dampferfahrt auf einem Berliner See erscheint an einem schönen Sommertag auch ein offenkundig alkoholabhängiger Mann mit seiner verhärmten Frau und zwei abgemagerten Kindern. Kurz nachdem der Dampfer abgelegt hat, ordert der Mann erst einmal ein großes Bier.

Auch wenn Rüdiger Salloch-Vogel seit 22 Jahren als Arzt und Psychotherapeut gegen die Süchte von Menschen ankämpft, lassen ihn Szenen wie diese nicht kalt: Zur Dampferfahrt auf einem Berliner See erscheint an einem schönen Sommertag auch ein offenkundig alkoholabhängiger Mann mit seiner verhärmten Frau und zwei abgemagerten Kindern. Kurz nachdem der Dampfer abgelegt hat, ordert der Mann erst einmal ein großes Bier. Doch schon an der ersten Haltestelle des Schiffs drängt er seine Familie aus unerfindlichen Gründen wieder zum Aussteigen. "Vielleicht war ihm übel, wer weiß", rätselt Salloch-Vogel. Für die Familie des Kranken war der Tag jedenfalls gelaufen. "Nie werde ich die Augen der Kinder auf dem Steg vergessen, als unser Dampfer wieder ablegte", bemerkt der Suchtarzt bewegt.

Das ist ein eher subtiles Beispiel für eine Tragödie, die weder in ihren Ausmaßen noch in ihren gesundheitlichen und gesellschaftlichen Langzeitfolgen gebührend erkannt wird. Rund acht Millionen Bundesbürger gehören nach Informationen der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS) Süchtigen an. "Die Begleitung Abhängiger kann an den Rand des eigenen Zusammenbruchs führen und selber behandlungsbedürftig sein", sagt DHS-Geschäftsführer Rolf Hüllinghorst.

"Viele Angehörige schämen sich"

Doch die meisten, vor allem Männer, scheuen sich lange vor rettenden Schritten. "Viele Angehörige schämen sich und verheimlichen ihre eigenen Sorgen, Nöte und Enttäuschungen, ihr seelisches Leid, den finanziellen Ruin und nicht zuletzt die Gewalttätigkeit Abhängiger", fasst Hüllinghorst zusammen. In der gegenwärtigen Suchtbehandlung bekämen die Angehörigen "wenig Hilfe" und drohten oft "mit in den Strudel zu geraten und darin unterzugehen".

Zu lange wurden die Partner, Kinder oder Eltern von Süchtigen "nur als zusätzliches Therapeutikum benutzt, bleiben aber Randfiguren", wie es Sonja Vennhaus ausdrückt, die Nachsorge-Referentin der DHS. Dabei bestimme das Zusammenleben mit einem Süchtigen das Leben ebenso sehr wie die Sucht selbst. "Die Angehörigen haben schnell den Blick auf ihr eigenes Leben verloren", fügt Vennhaus hinzu.

Der Suchtarzt Salloch-Vogel schildert die Belastung für die Angehörigen drastisch. "Süchtige sind unglaublich selbstbezogen und hemmungslose Egoisten, wobei ich das nicht moralisch meine", sagt er. "Sie suchen schwache Stellen beim Gegenüber und trampeln darauf herum." Die Angehörigen lebten in einem ständigen Wechselbad aus Liebe und Ekel, angewidert oft schon dadurch, "dass Säufer stinken, weil sie ihr Gift ausatmen" - auch nachts im Ehebett. "Die alles vergiftende Egozentrik der Sucht lässt am Ende niemandem in der Familie mehr Luft zum Atmen", setzt der Arzt hinzu.

Am meisten haben die Frauen und Kinder unter der Alkoholsucht zu leiden. Rund 80 Prozent der Trinker sind Männer. Fast 90 Prozent der Frauen begleiten ihre Partner durch die rückfallträchtige, oft zermürbende Krankheit, doch umgekehrt stehen nur zehn Prozent der Männer ihren süchtigen Frauen bei. Etwa 1,8 bis zwei Millionen Kinder unter 18 Jahren wachsen hier zu Lande in Familien mit wenigstens einem süchtigen Elternteil auf. "Sie werden in der Regel um ihre Kindheit betrogen", sagt Wiebke Schneider vom Deutschen Guttempler-Orden, einer 150 Jahre alten Abstinenzler-Vereinigung.

Die Folgen derartiger Konfrontation mit Kontrollverlust, Ausfälligkeiten und Gewaltbereitschaft sind für die Kleinen eklatant: "Die Sucht von Vater oder Mutter trifft Kinder an der Wurzel", urteilt Salloch-Vogel. Mindestens 25 Prozent der Kinder aus Suchtfamilien werden selber süchtig, vor allem wenn beide Elternteile sich gehen lassen; weitere 50 Prozent leiden später unter Ängsten, Depressionen und anderen Psycho-Störungen. Die mangelnde Orientierung an guten Vorbild-Eltern hinterlässt Spuren.

Süchtige Mutter, süchtige Tochter

"Süchtige Mütter ziehen oft süchtige Töchter auf", sagt die Guttemplerin Wiebke Schneider. Nach Erfahrungen des Mediziners Salloch-Vogel verbinden sich 80 Prozent der Töchter alkoholabhängiger Kranker später mit ebensolchen Männern, "auch wenn diese zu Beginn der Beziehung noch gar nicht trinken." Schon das lässt an psychische Suchtmuster im Charakter von Menschen denken, die vor dem ersten Schluck oder der ersten Spritze angelegt sind - oder an Abhängigkeitsmuster bei ihren späteren Partnern: Laut Salloch-Vogel "haben 50 Prozent aller Sozialarbeiterinnen in den USA einen alkoholkranken Vater." Die Ich-Stärke bei Kindern zu fördern, sie stark zu machen, ist deshalb das A und O der Vorbeugung.

Tarnung nach außen

Die Angehörigen von Suchtkranken verheddern sich in einem selbst gewobenen Gespinst aus Tarnung der Sucht nach außen und Selbsttäuschung. "Sie leugnen, verschleiern, decken und blenden aus", sagt Salloch-Vogel. Ihr ganzes Leben bündele sich in der Aufmerksamkeit, der Sorge für den Kranken. "Was der Alkohol für den Süchtigen ist, das ist der Alkoholiker für den Angehörigen" - so spitzt der Suchtarzt die Ko-Abhängigkeit zu. Die Sucht in der Familie wird für diese einziger Lebenssinn und -zweck.

Die Erfahrungen am Jüdischen Krankenhaus sprechen Bände: "In der Regel brechen Angehörige acht bis zwölf Wochen nach Beginn der Abstinenz zusammen", hat der Berliner Suchtexperte beobachtet. Die Hälfte der verheirateten Paare mit einem Suchtpatienten trennten sich innerhalb von zwei Jahren nach Beginn des "Trockenseins". Schon deshalb müssten viele Angehörige mit behandelt oder betreut werden.

"Frauen sind für moralische Appelle an ihre Hilfsbereitschaft extrem empfänglich, es entspricht ihrer gesellschaftlichen Rolle, zu helfen", sagt Antje Stender-Bahr vom Freundeskreis für Suchtkrankenhilfe. Auch sie ist die Tochter eines alkoholkranken Vaters. "Meine Mutter hat mich zu einer perfekten Ko-Abhängigen erzogen." Die Sucht des Vaters galt es zu vertuschen. "Was sollen denn die Leute denken", habe die Mutter oft geäußert. "Noch heute, nach dem Tod ihres Mannes, erlebt sie sich als Opfer", sagt Stender-Bahr. Ganz typisch wählte auch sie einen Trinker zum Mann und verbarg dessen und ihr Leiden vor den Bekannten und der eigenen Mutter: "Ich hatte das super drauf, alles abzuschirmen, schließlich hatte ich es schon als Kind gelernt."

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