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Gesundheit: Allein mit der Stimme

Der Märchenerzähler hat nichts als sich, seine Geschichte – und das Publikum. Wehe, es wendet sich ab

Von Tom Heithoff

Das Publikum ist mucksmäuschenstill. Gebannt blickt es. Gespannt lauscht es. Nurkan Erpulat zupft ein wenig nervös an seinem Hemd, das mit seinen gelben und roten Mustern eine durchaus orientalisch-märchenhafte Aura verströmt, und schon tragen ihn seine nackten Füße hinauf auf die kleine Bühne. Er erzählt das türkische Märchen von „Prinz Jusuf“, der sich in einen weißen Vogel verwandelt hat und nach einigen Abenteuern endlich in den Armen der schönen Sultanin liegen kann - als Mann und nicht mehr als Vogel selbstverständlich. Mit den Augen spricht er, mit den Händen, mit dem Körper. Und natürlich mit seiner einnehmenden Stimme, die Naivität und Glaubwürdigkeit aufs Schönste vereint.

Aber was ist das? Im Publikum sitzen gar keine Kinder. Es sind alles reife, zumindest mittelreife Leute, die sich zur Märchenstunde eingefunden haben, die kürzlich im Rahmen des UdK-Rundgangs in der Bundesallee stattfand. Ist das nicht eine kleine Überraschung? „Eine große Überraschung sogar“, sagt Kristin Wardetzky, die den Studiengang Spiel- und Theaterpädagogik an der Universität der Künste leitet und seit zehn Jahren die Kunst des Märchenerzählens lehrt. Die Kurse sind voll. Märchenerzählen ist bei den Studierenden sehr beliebt. Bei Kindern sowieso. „Umso schöner“, sagt Wardetzky, „dass auch das erwachsene Publikum darauf anspringt.“

Die drei Regeln der Kunst

Drei Dinge machen die Kunst des Märchenerzählens aus. „Der Spieler muss zum einen seine Individualität finden und zum Tragen bringen", sagt Wardetzky. Er brauche ein selbstbewusstes Ich, um der Erzählerrolle gerecht werden zu können. Schließlich steht er „nackt und bloß auf der Bühne".

Er hat in der Regel kein Requisit, keinen Souffleur, auch keinen Mitspieler, der ihn im Notfall aus dem Schlamassel ziehen kann. Zweitens müsse er die Fähigkeit entwicklen, in die verschiedensten Rollen zu schlüpfen. Dabei sei die Kunst, „in Sekundensschnelle zwischen den Positionen zu wechseln, ohne die Rolle des Erzählers jemals gänzlich aufzugeben“. Der Märchenerzähler müsse derjenige bleiben, der die Zügel in der Hand hält. Im Sinne der Geschichte. Und für das Publikum. „Wer hingegen die Erzählung benutzt, um sich selbst darzustellen, scheitert.“

Das Publikum spielt mit

Drittens braucht er einen feinen Sinn für das Publikum. Das Publikum nämlich nimmt in der Kunst des Märchenerzählens eine ganz besondere Rolle ein. Es ist Ohr, aber zugleich Stimme. Ist Adressat und Mitspieler. „Man spielt mit dem Publikum, und das Publikum spielt mit. Märchenerzählen ist dialogisch.“ Je nach Zuhörerschaft entwickle sich eine Geschichte jedes Mal anders. „Der Erzähler nimmt die Reaktionen auf und reagiert darauf mit immer anderer Modulation, mit immer anders gesetzten Pausen." Das Erzählen realisiere sich ganz stark über den Augenkontakt, weshalb Märchen in großen Sälen auch nicht funktionieren können. Durch dieses Mitspielen wird das Publikum für den einsamen Erzähler „zum Halteseil am Fels". Aber wehe, es zeigt ihm die kalte Schulter. „Dann stürzt er unweigerlich ab."

Die insgesamt 60 Studierenden belegen das Fach „Erzählen in Theorie und Praxis“ innerhalb des viersemestrigen Aufbaustudiums neben den Fächern Bewegung, Stimme, Improvisation, szenische Arbeit und Theatertheorie. Wardetzky hat die Erfahrung gemacht, dass die Studenten das Märchenerzählen dem Mythenerzählen vorziehen, da man „unmittelbarer auf den Kern der Geschichte reagieren kann und nicht, wie bei den Mythen, das gesamte Wissens-Umfeld erarbeiten muss“.

Zustand der Verzauberung

Zudem hätten Märchen eine größere Faszinationskraft: Während es in den Mythen oft um einen unauflösbaren Konflikt, um eine gewisse Unerbittlichkeit gehe, seien Märchen in der Lage, uns „in den Zustand der Verzauberung, der Verklärung" zu führen. Damit der Funke auch aufs Publikum überspringt, lernt der Studierende natürlich Stimmführung und Atemtechnik. Aber das seien nur die Grundlagen; „Erzählen lernt man nur im Erzählen.“ Die uralte Kunstform Märchen ist nicht totzukriegen. „Es hat überraschenderweise alle kulturellen Umbrüche überstanden“, sagt Kristin Wardetzky. Der Übergang von der mündlichen zur schriftlichen, von der schriftlichen zur digitalen Kultur habe ihm nichts anhaben können. Vielleicht ist sogar die momentan wirksame „mediale Flut der vorproduzierten Bilder“ die beste Hilfe für das klassische Erzählen, denn „dadurch wird eine Gegenbewegung ausgelöst, die das verschüttete Bedürfnis nach Phantasietätigkeit, Kontemplation, Einlassen auf das Fremde freilegt“.

Märchenabende, Märchenstunden

Überall regt es sich im Märchen-Land: Mit (ehemaligen) Studierenden hat Kristin Wardetzky die Gruppe „Fabula Drama" gegründet, die „leider noch unregelmäßig" Märchenabende veranstaltet. Letztes Jahr gab es einige erfolgreiche Vorstellungen im Literaturforum im Brechthaus - für die Zukunft plant man, Märchenstunden in Buchhandlungen durchzuführen (Kontakt über www.suseweisse.de ). Es gibt eine Europäische Märchengesellschaft ( www.maerchen-emg.de ). Einige freie Märchenerzähler bieten ihre Erzähldienste an, so zum Beispiel Danka Rubarth ( http://www.danka@berlinermaerchen.de " target="new"> www.danka@berlinermaerchen.de . Weitere Kontaktadressen von regionalen Märchenkreisen erteilt die Literaturwissenschaftlerin Kathrin Pöge-Alder unter http://www.kathrin.poege-alder@gmx.net " target="new"> www.kathrin.poege-alder@gmx.net ). Im Herbst (16. bis 22. November) findet im Kino im Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur (Friedrichstraße 176, Telefon 20302-251) die Märchenfilmwoche statt. Das Türkische Theater Berlin Tiyatrom (Alte Jakobstraße 12, www.tiyatrom.de ) veranstaltet am 23. November die Lange Nacht der Märchenerzähler. Kein Zweifel: Es liegen Märchen in der Luft.

Die Bewerbungsfristen für den Aufbaustudiengang Spiel- und Theaterpädagogik an der Universität der Künste enden jährlich Ende April, eine dreitägige Aufnahmeprüfung findet im Juni statt. Beim Erzählwettbewerb des Tagesspiegels sind auch Märchentexte willkommen – sie sollten allerdings mit unseren Rahmenthemen „In der Fremde“ oder „Fremdgehen beim Essen“ zu tun haben.

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