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Gesundheit: Als Näherin im Parlament

Vor hundert Jahren bekamen Frauen erstmals das volle Wahlrecht – in Finnland

Politik und Mode können sich in die Quere kommen. Die sozialdemokratische Abgeordnete Maria Paaso wurde vorübergehend aus ihrer Fraktion ausgeschlossen, weil sie sich zu vornehm kleidete und damit „zu bürgerlich“ aussah. Maria Paaso war eine der 19 finnischen Frauen, die als erste weibliche Abgeordnete in ein Parlament einzogen. 1906, ein Jahr zuvor, hatte Finnland als erstes Land der Welt seinen Frauen das aktive und passive Wahlrecht gewährt.

Der Streit über Maria Paasos Kleidungsstil zeigt: Im neuen finnischen Parlament war die Abgrenzung zwischen den Klassen wichtiger als die zwischen den Geschlechtern. Als die finnischen Frauen vor hundert Jahren das Wahlrecht errangen, war dies weniger ein Sieg der Frauen gegen die Männer, sondern einer der Unterprivilegierten gegen die Herrschenden. Männer und Frauen hatten zusammen in der Arbeiterbewegung das allgemeine und gleiche Wahlrecht erkämpft. Sie protestierten gegen ein altmodisches Ständewahlrecht, das drei Viertel der Bevölkerung ausschloss, und gegen die Politik des russischen Zaren, der das Land russifizieren wollte. Die Finnen demonstrierten, streikten und konnten schließlich ihre Hauptforderung durchsetzen: 1906 wurde allen Männern und Frauen ab 24 Jahren das allgemeine und gleiche Wahlrecht gewährt.

In Neuseeland durften Frauen bereits 1893 wählen, aber nicht gewählt werden. 1902 verlieh Australien das Wahlrecht nur an weiße Frauen. In Finnland konnten nun alle Frauen wählen und gewählt werden – sie hatten erstmals die gleichen parlamentarischen Rechte wie die Männer. Bei den ersten Wahlen 1907 gingen von 200 Sitzen 19 an Frauen. Neun von ihnen waren Arbeiterinnen und ohne Bildung. Da noch kein Lohn für die Arbeit im Parlament gezahlt wurde, mussten sie weiter arbeiten. „Die meisten waren Näherinnen, sie waren sehr modisch gekleidet“, sagt Marjaliisa Hentilä, Direktorin des Berliner Finnland-Instituts und Forscherin auf dem Gebiet der Frauenbewegung. Anders als es heute noch deutschen Politikerinnen passiere, habe sich „im Parlament niemand über sie lustig gemacht, sie wurden eher bewundert“.

Bei Maria Paaso ging der Partei das Modebewusstsein offenbar zu weit. Auch sie arbeitete als Näherin in Helsinki. Ihre vorige Stelle als Dienstmädchen hatte sie aufgegeben, weil der Hausherr sie sexuell belästigt hatte. Paaso setzte sich früh für die Rechte der Kinder ein und engagierte sich wie viele ihrer Kolleginnen in der Abstinenzlerbewegung. Mit dem politischen Engagement hatte ihr Mann Probleme: Er fühlte sich vernachlässigt und reichte die Scheidung ein.

Paasos sozialdemokratische Kollegin Miina Sillanpää schaffte es gar vom Dienstmädchen bis zur Ministerin. Von den 19 Parlamentarierinnen der ersten Stunde hatte sie die längste politische Laufbahn. Knapp 30 Jahre lang war sie im Parlament vertreten, 1926 übernahm sie das Sozialministerium und wurde die erste Ministerin Finnlands. Früh kämpfte sie für die Rechte der Haushaltsangestellten, später setzte sie sich für Schutzheime für unverheiratete Mütter ein.

Dass Sillanpää, Paaso und ihre proletarischen Kolleginnen nun im Parlament saßen, sorgte für Missmut. So empörte sich Alexandra Gripenberg, dass es in der finnischen Volksvertretung nicht nur ungebildete Frauen gebe, sondern „auch ein Dienstmädchen, eine Wäscherin und andere Plebejer“. Gripenberg saß ebenfalls im Parlament, allerdings für die konservative Altfinnische Partei. Die Vertreterinnen der konservativen und liberalen Frauenbewegung wollten Frauen zwar auch das Wahlrecht zugestehen – aber nur den Frauen des eigenen Standes. Sie unterstützten die Anträge der Arbeiterinnen nicht. Dabei hatten sie einige ähnliche Ziele: Beide wollten Ehefrauen aus der Vormundschaft ihrer Männer befreien und ihnen mehr Mitsprache bei den Kindern gewähren. Damals bestimmte allein der Ehemann die Religion, den Aufenthaltsort und die Nationalität der Kinder.

Aber daraus entstanden keine gemeinsamen Initiativen. Die Gräben im finnischen Parlament verliefen nicht zwischen Mann und Frau, sondern zwischen oben und unten. Die proletarischen Parlamentarierinnen hielten sich an ihre männlichen Fraktionsgenossen. So hatten beide bereits gemeinsam in der Arbeiterbewegung das Wahlrecht für alle errungen. Genau das scheint das Erfolgsrezept gewesen zu sein: dass die finnischen Frauen nicht gegen, sondern gemeinsam mit den Männern für ihre Rechte kämpften. Darin unterschieden sie sich von anderen Frauenbewegungen ihrer Zeit.

In England und in den Vereinigten Staaten hatten die Bewegungen deutlich stärker feministische Züge und waren militanter. Um Aufmerksamkeit zu erlangen, schlugen sie schon mal mit Regenschirmen um sich, zerstörten Schaufenster oder brachen in Parlamentsgebäude ein. Die gewünschte Aufmerksamkeit erlangten sie damit, eine Basis im Volk hatten sie nicht. „Die, die am lautesten geschrien haben, hatten erst später Erfolg“, sagt Marjaliisa Hentilä. In England und den USA, wie auch in Deutschland, mussten die Frauen bis nach dem Ersten Weltkrieg warten, bevor sie die gleichen Wahlrechte wie die Männer erhielten.

Finnland wurde für die Frauenbewegungen in aller Welt zum Vorbild und zum besten Argument gegen die Behauptungen, „dass politisch aktive Frauen ,vermännlichen’ und damit die Institution der Familie und schließlich die Gesellschaft zerstören würden“. So fasst der Historiker Alexander Schug die Denkstrukturen zusammen, gegen die sich Frauen auch in anderen Ländern immer wieder wehren mussten.

Das Frauenwahlrecht entwickelte sich zum wahren Exportschlager Finnlands. Überall angekommen ist es gleichwohl noch nicht. Auch heute verwehren Staaten von Brunei bis Saudi-Arabien Frauen Wahlrechte, die die Männer längst genießen. Spätzünder findet man nicht nur in der arabischen Welt oder in Südostasien. Die Schweiz führte das Frauenwahlrecht auf Bundesebene nicht vor 1971 ein. Im Schweizer Kanton Appenzell-Innerrhoden wurde es den Frauen gar erst 1990 erlaubt zu wählen – nicht auf dem Wege der Abstimmung, sondern durch eine Anordnung des Bundesgerichts.

Die Humboldt-Universität zeigt vom 8. März bis 5. April die Ausstellung „Von heute an für alle! 100 Jahre Frauenwahlrecht“ im Foyer des Hauptgebäudes (Unter den Linden 6 in Berlin-Mitte). Der Eintritt ist kostenlos.

Fabian Reinbold

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