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Gesundheit: Auch wenn es nicht gern gehört wird: es gibt gute Gründe für den Schwindel

"Kannst du mir mal deine Arbeit leihen?" So spricht eines Tages der kleine schreibschwache Gauner, der zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts von seiner kriminellen Energie ahnt.

"Kannst du mir mal deine Arbeit leihen?" So spricht eines Tages der kleine schreibschwache Gauner, der zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts von seiner kriminellen Energie ahnt. "Wozu?" fragt der andere. "Nur zum Gucken. Nicht zum Abschreiben." Nicht zum Abschreiben? Warum eigentlich nicht, denkt der kleine Gauner beim Gucken. Warum nicht ein Kapitelchen abschreiben, wenn es doch so gut geschrieben ist! Schadet doch keinem. Und so ist die Arbeit noch zu etwas nütze, bevor sie zerfällt. Das ist Variante eins - die Zufälligkeitsvariante.

Variante zwei ist die Vorsätzlichkeitsvariante. Hier muss sich der Mogler schon etwas anstrengen. Um einen professionellen Schreibservice ausfindig zu machen, muss er ein wenig in den Stadtmagazinen blättern. "Uni-Stress? Rat und Hilfe bei allen Fragen rund um die wissenschaftliche Arbeit", heißt es da etwas verdeckt - oder auch ganz offen: "Ghostwriter-Service. Kompletterstellung wissenschaftlicher Arbeiten". Nötig sind neben Geld auch ein etwas weiches Gehirn, weil man sich einreden muss, dass der bezahlte Schreiber auf ewig seine Klappe halten wird.

Wo fängt das Schummeln eigentlich an? Die Arbeit einem anderen zum Lesen geben und auf argumentative und orthografische Fehler hin durchsehen lassen - ist das schon ein Vorbeimogeln an der "eigenen Leistung", die in einer Prüfung gefordert ist? Strenggenommen ja. Aber so streng ist niemand in den Prüfungsbüros. Nein, das Gegenlesen wird sogar empfohlen. Man soll sich durch einen fremden Blick ruhig auf die eigenen Schwächen hinweisen lassen, wenn dies dazu führt, dass sich der Kritisierte anschließend selbst um die Verbesserung bemüht.

Es ist ein Gebot der wissenschaftlichen Redlichkeit: Geistiges Eigentum Dritter muss durch genaue Angaben der Quellen und Belege nachprüfbar gemacht werden. Eine unzitierte Übernahme geistigen Eigentums ist ein Plagiat. Darauf wird in jedem Proseminar dutzendfach hingewiesen.

Der Verfasser einer Examensarbeit muss erklären, dass er die Arbeit selbstständig angefertigt und alle benutzten Quellen vollständig angegeben hat. Doch kann die Bibliografie auch der Vertuschung dienen. Es gibt Leute, die im Schutz eines unbedeutenden Zitates umso dreister das Gehaltvolle plagiieren. Indem sie einen Teil ordnungsgemäß zitieren, lenken sie von dem folgenden, nicht zitierten, aber geklauten Gedanken ab. Der Anglist Ewald Standop ("Die Form der wissenschaftlichen Arbeit", UTB) sagt dazu: "Das ganze Problem spitzt sich auf die Frage zu: Sind die stilistischen Signale exakt und ausreichend genug, damit der Leser an jeder Stelle des Textes entscheiden kann, ob der Verfasser selbst zu ihm spricht oder ob er nur irgend etwas aus zweiter Hand mitteilt."

Niemand kann behaupten, noch nie etwas davon gehört zu haben. Das bedeutet: Die Gauner haben einfach gute Gründe, es mit der Redlichkeit nicht so genau zu nehmen. Der Rebell zum Beispiel stellt den Sinn von Prüfungen generell in Frage. "Ich verweigere mich dieser autoritären Struktur, ich protestiere gegen den Machtstatus des Prüfers. Mit welchem Recht vergibt er Noten, die Folgen für mein ganzes Leben haben können." Andere müssen abschreiben, da ihnen die Zeit zum Selberschreiben fehlt. "Kein Bafög. Eltern zahlen nicht. Muss dauernd jobben und habe deshalb keine Energie mehr für den Unikram." Auch dafür haben wir alle vollstes Verständnis.

Die Über-Leichen-Geher sind nicht weniger überzeugend. Ihr Prinzip? Skrupelloser Egoismus - absolute Effizienz. Sie klauen sich aus allen Haus- und Magisterarbeiten das Beste zusammen und sagen schlicht: "Das lebt mir der Kapitalismus doch vor." Auch nicht schlecht, diese Begründung. Fast so gut wie die: "Die Profs sind doch die Schlimmsten. Schaut euch die Fälschungs- und Diebstahlsskandale in den Naturwissenschaften an. Seht doch, wie hemmungslos die Profs die Ergebnisse ihrer Studenten für eigene Publikationen verwenden!"

Bemerkenswert gute Gründe haben auch diejenigen, die sich gedanklich schon längst von der Uni verabschiedet haben. Sie haben beruflich schon Fuß gefasst, aber wollen auf den Abschlusslappen natürlich nicht verzichten - könnte ja noch nützlich sein für die weitere Karriere. Anstrengen kann man sich aber leider nicht mehr für den Wisch. Man hat einfach zuviel um die Ohren. Ja dann!

Gute Gründe allenthalben. So viele Gründe, dass eigentlich kaum noch Raum bleibt für die ehrlichen Häute. So viele Gründe, dass es geradezu dumm wäre, ethisch sauber bleiben zu wollen in der Welt des Scheins und der Täuschung. Denn dass die Uni eine Welt des Scheins und der Täuschung ist, hat schon Schopenhauer in seiner kleinen Schrift "Über Gelehrsamkeit und Gelehrte" festgestellt. "Wenn man die vielen und mannigfaltigen Anstalten zum Lehren und Lernen und das so große Gedränge von Schülern und Meistern sieht, könnte man glauben, dass es dem Menschengeschlechte gar sehr um Einsicht und Wahrheit zu tun sei. Aber auch hier trügt der Schein. Jene lehren, um Geld zu verdienen, und streben nicht nach Weisheit, sondern nach dem Schein und Kredit derselben: Und diese lernen nicht, um Kenntnis und Einsicht zu erlangen, sondern um schwätzen zu können und sich ein Ansehn zu geben."

Ist der Studiosus kein wissbegieriges Wesen mehr? Will er nur noch wissen, wie er mit möglichst wenig Aufwand den größten Wissens-Schein erlangt? Regt sich da kein Widerstand?

Tom Heithoff

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