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Gesundheit: Auf der Suche nach Sicherheit

In Steglitz hat ein Wohnheim für Autisten eröffnet. Menschen mit dieser Entwicklungsstörung benötigen Rückzugsmöglichkeiten – und dennoch Impulse, die sie aus der Reserve locken.

Die besten Pommes gibt es in Neukölln. Deshalb steigt Matthias Schulze, der wie alle hier vorgestellten Bewohner in Wirklichkeit anders heißt, regelmäßig am Bahnhof Rathaus Steglitz in die U-Bahn. Die Station ist nicht weit von der Wohnstätte des Autismuszentrums an der Arno-Holz-Straße entfernt, wo Schulze seit kurzem lebt. Er gehört zu den wenigen Bewohnern, die sich draußen gut orientieren und ihr Zuhause deshalb auch alleine verlassen können. Wenn er wieder einen Ausflug zu seiner liebsten Pommes-Bude plant, gibt er seinen Betreuern schon Wochen vorher Bescheid. Auch Martha Wendler zieht sich gerade eine Jacke an, um kurz an die frische Luft zu gehen. Vorher ist die junge Frau im Flur auf die Reporterin und den Fotografen zugelaufen und hat mit überdeutlicher Artikulation, rollendem R und ernstem Blick gefragt: „Wer bist du?“ und „Wann wurdest du geboren?“

„Wenn Sie noch mal kommen, dann wird sich Martha an Ihre Geburtstage erinnern“, sagt Stefan Mantel. Er leitet die Wohnstätte für erwachsene Autisten und führt an diesem Freitagnachmittag durch die Räume, die noch ein bisschen nach Farbe riechen. Das neu gebaute und rosa gestrichene Haus wurde erst vor ein paar Wochen bezogen. Acht Bewohner haben schon vorher gemeinsam in einer Wohnstätte gelebt, fünf kommen aus anderen Einrichtungen, drei sind gerade erst bei den Eltern ausgezogen. Die Jüngste ist 19, die meisten zwischen 20 und 40, der Älteste über 50. In Steglitz leben sie nun in zwei Wohngemeinschaften. Im Moment sind nur zwei Frauen darunter. „In vielen Einrichtungen gibt es gar keine Frauen, denn auf fünf männliche Autisten kommt nur eine weibliche“, sagt die Psychologin Bärbel Wohlleben vom Berliner Landesverband des Vereins Autismus Deutschland.

Der Verein hat 1995 in Wilmersdorf eine Wohnstätte für sechs erwachsene Menschen mit Autismus eröffnet und war auf der Suche nach größeren Räumlichkeiten – denn die Nachfrage stieg. Vor zwei Jahren zog das Autismuszentrum in das vordere Gebäude an der Arno-Holz-Straße, im hinteren Teil entstand die neue Unterkunft.

Finanziert wurde der Bau unter anderem aus Mitteln der Deutschen Klassenlotterie und der Aktion Mensch. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die zu kognitiven, emotionalen, sozialen, sprachlichen und motorischen Beeinträchtigungen führen kann. In der Regel fällt es Autisten schwer, Kontakte zu ihren Mitmenschen aufzubauen, sich in andere hineinzuversetzen oder deren Mimik und Gestik zu verstehen.

Deshalb brauchen sie Ansprechpartner, die direkt, klar, freundlich und verständlich mit ihnen kommunizieren. Und die Möglichkeit, sich regelmäßig zurückzuziehen. Die Menschen, die gerade nach Steglitz gezogen sind, haben zusätzlich noch eine geistige Behinderung. Sie arbeiten tagsüber in verschiedenen Berliner Werkstätten und kommen am Nachmittag zurück in die Einrichtung. In der Arno-Holz-Straße leben sie in Wohngruppen, in familienähnlichen Strukturen, die sie überblicken können. Und sie werden dort individuell gefördert: Um die derzeit 16 Bewohner – zwei Zimmer sind noch nicht bezogen – kümmert sich ein Team aus insgesamt 13 Mitarbeitern, darunter sind Erzieher, Heilerziehungspfleger und eine Therapeutin. An einer Magnettafel im Flur hängt der aktuelle Schichtplan: Statt auf die Namen schaut man auf Fotos der Mitarbeiter. „Viele Bewohner können nicht lesen und haben Probleme, sich an Gesichter zu erinnern“, sagt Bärbel Wohlleben.

„Die Bewohner brauchen eine enge Struktur, die ihnen Sicherheit gibt. Veränderungen benötigen deshalb einen langen Vorlauf“, sagt Stefan Mantel, und öffnet kurz die Tür zur Werkstatt, in der die Bewohner in Kleingruppen arbeiten können. Ein paar Meter weiter liegt der Bewegungsraum, in dem Trimmfahrräder und eine Musikanlage stehen. Manche Bewohner setzen sich gerne allein auf die Trainingsgeräte, andere müssen dabei intensiv begleitet werden. „Wenn man nicht neben ihnen stehen bleibt, sind sie auch ganz schnell wieder weg“, sagt Bärbel Wohlleben.

Die Betreuer haben in der Wohnstätte eine Aufgabe, die auf den ersten Blick widersprüchlich klingt: Einerseits sollen sie den Bewohnern Sicherheit bieten – sie andererseits aber auch immer wieder ein bisschen aus der Reserve locken. „Es ist eine Gratwanderung, sie mit so viel Veränderung wie möglich und so wenig wie nötig zu konfrontieren.“ Dabei müssen die Mitarbeiter aufpassen, dass sie mit der Zeit nicht selbst autistisch werden: Zum Beispiel, wenn sie panisch darauf achten, dass ein Bewohner immer nur „seine“ Leberwurst in einer speziellen goldenen Verpackung bekommt.

Menschen mit Autismus reagieren auf Reize oft sehr intensiv, deshalb sind ihre Zimmer eher spartanisch eingerichtet. Vorlieben lassen sich aber trotzdem erkennen, vor allem an den Postern: Ein Bewohner mag gerne Spinnen und Ernie aus der Sesamstraße, ein anderer hat sich Goethe über sein Bett gehängt. Einen Raum weiter lächelt Queen Mum mit leicht geneigtem Kopf aus einem Bilderrahmen, an der gegenüberliegenden Wand hängt eine Leiste mit Fotos, auf denen Kleidung und ein Waschbecken abgebildet ist. Die Bilder stehen für einzelne Aufgaben. „Diesem Bewohner helfen die Fotos, einen Tag zu überblicken“, sagt Stefan Mantel. Fotografien sind ohnehin ein gutes Trainingswerkzeug: „Menschen mit Autismus sind deutlich schlechter darin, Handlungen zu planen und sich Abfolgen zu merken“, ergänzt Bärbel Wohlleben. Deshalb kann es zum Beispiel passieren, dass sie beim Zähneputzen zuerst die Bürste in den Mund stecken und dann versuchen, die Zahnpasta irgendwie noch dazuzuquetschen.

Der Bewohner Sascha Kunze hat Feierabend. Er geht in die Küche, holt sich einen Joghurt, setzt sich auf seinen Stammplatz im Gemeinschaftsraum und isst. Die Menschen um sich herum scheint der junge Mann auszublenden. Bald kratzt er mit dem Löffel am Boden des Joghurtbechers, räumt auf und geht in sein Zimmer. Später wird er mit den anderen Bewohnern zu Abend essen. Beim Tischdecken wechseln sich die Bewohner ab. Ein Stockwerk weiter unten springt Anatol Weber auf die Besucher zu, schaut sich kurz die Kamera des Fotografen an und zeigt dann auf den Film, der gerade läuft: Blues Brothers. Er möchte gerne noch ein bisschen dazu tanzen.

Gibt es unter den Bewohnern eigentlich Freundschaften? Auf den Ausflugsfotos im Flur sieht es schon danach auch. Stefan Mantel formuliert es so: „Ich würde es nicht Freundschaft nennen, aber es ist schon so, dass die Bewohner lieber neben dem einen als neben dem anderen auf dem Sofa sitzen.“

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