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Gesundheit: Auschwitz: Millimeterarbeit am Ort des Verbrechens

Vor dem Zweiten Weltkrieg, sagt die polnische Stadtführerin, hatte Oswiecim 12 000 Einwohner, 7000 davon waren Juden. Ein Junge aus der Gruppe fragt scheinbar fassungslos: "Was, über die Hälfte waren Juden, in einer polnischen Stadt?

Vor dem Zweiten Weltkrieg, sagt die polnische Stadtführerin, hatte Oswiecim 12 000 Einwohner, 7000 davon waren Juden. Ein Junge aus der Gruppe fragt scheinbar fassungslos: "Was, über die Hälfte waren Juden, in einer polnischen Stadt?" Der 18-jährige Berliner Gesamtschüler bricht förmlich zusammen. Er geht am Straßenrand in die Hocke, stützt seinen Kopf in die Hände.

In einer schmalen, von zerfallenden Häusern und Baulücken gesäumten Straße erklärt die Stadtführerin, dass dort bis 1940 das jüdische Viertel war. Ein anderer Junge aus der Gruppe Berliner Schüler fragt, warum die Juden immer zusammenwohnten, sich nicht mit den anderen vermischten. Wie sollten sie da nicht unbeliebt sein? Sie wurden seit Jahrhunderten in Gettos gezwungen, erklärt geduldig der Geschichtslehrer. In besseren Zeiten gab es auch viele, die überall gelebt haben, wie andere Bürger der Stadt. Bis die Nationalsozialisten kamen und sie wieder ins Getto oder ins Lager schickten.

Was sind das bloß für Fragen in einer Stadt wie Oswiecim, die unter österreichischer und deutscher Herrschaft Auschwitz hieß? Joachim Gaestel ist ein Geschichtslehrer, der es gelernt hat, auch auf offensichtliche Provokationen gelassen zu reagieren. Er versucht, das Interesse seiner 15 bis 18 Jahre alten Schüler und Schülerinnen für historische Sachverhalte zu wecken, die sie zu Hause und in ihren Cliquen nicht kennen lernen. Er redet gegen den Trotz und die Streitlust in den jungen Gesichtern an. Gaestel und eine Kollegin von der Weddinger Ernst-Schering-Gesamtschule waren mit zehn Schülern in die Internationale Jugendbegegnungsstätte Oswiecim gefahren.

Die Städte Oswiecim und Krakow sowie die ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz I und Birkenau wollen sie auf dieser einwöchigen Reise kennen lernen. Und eine ebenfalls zehnköpfige Schülergruppe aus Moskau. Beide Gruppen haben sich an ihren Schulen in freiwilligen Arbeitsgemeinschaften mit dem Thema Jüdisches Leben und Holocaust (Berlin) und Faschismus (Moskau) beschäftigt. Organisiert wurde die Fahrt vom Berliner Verein Kontakty/Kontakte zu den ehemaligen Völkern der Sowjetunion. Ein volles, schweres Programm lastet auf den schmalen Schultern der Jugendlichen.

"Es wird bestimmt krass", fürchtet eines der Berliner Mädchen im Zug nach Auschwitz. Die Bilder aus dem Geschichtsbuch, die Zahlen der Ermordeten würden wirklicher werden und ganz nah an sie herankommen. Ein 14-Jähriger aus Moskau stellt sich am Tag vor dem Besuch das Lager Auschwitz I wie das Gruselkabinett in London vor, "wo dich hinter jeder Biegung des Ganges jemand erschrecken konnte". In der Schule und in den Medien werde das Thema Holocaust aufgebauscht, sagen Mathias und Tobias. Durch zu viele Bilder des Grauens "stumpft man ab". Und: "Wenn man jemandem ständig vorhält, dass er böse ist, wird er böse." Mitgefahren sind sie trotzdem, um mehr zu erfahren über das Lagersystem.

Geschichtslehrer Gaestel erwartet nicht zu viel von der Reise, vor allem nicht von den Jungen, die sagen, sie seien "national eingestellt". Allenfalls könnte ein "Prozess des Umdenkens" eingeleitet werden. Nach der Vermittlung von Wissen über den Judenmord auch "emotionale Betroffenheit zu wecken", sei das Klassenziel in Auschwitz, sagt Gaestel. "Wenn wir drei, vier Millimeter bewegt haben", sagt der Lehrer auf der Rückfahrt im Zug, "hätten wir viel erreicht."

Millimeterarbeit am Ort des Verbrechens, geht das? Im Museum des Stammlagers gibt es diese ganz stillen Momente vor den Bergen abgetrennter Haare der Ermordeten, vor ihren Schuhen und Koffern hinter Glas. "Ist ja echt krass, voll schlimm", sagt jetzt auch Tobias. Draußen, auf dem sonnenbeschienenen Sandweg zwischen den gemauerten Gebäuden mit den Unterkünften der Häftlinge, drängen sich andere Eindrücke auf. Bei der Bundeswehr, vermuten die Jungen, würden sie wohl schlechter wohnen. Die Antwort liegt nahe: Im nächsten Block sehen sie die Schlafräume, in denen loses Stroh auf dem Betonboden liegt, und die mit den dreistöckigen hölzernen Pritschen für je zwei bis vier Häftlinge. Nach den Besuchen der beiden ehemaligen Lager werden die Wortführer der Berliner Jugendlichen bekräftigen, sie hätten im Grunde schon alles gewusst über Auschwitz. Schockierend und faszinierend zugleich sei die "Präzision der Tötungsmaschinerie" gewesen, die die SS in Birkenau aufgebaut habe.

Peter schaut in den Lagern genauer hin als die anderen. Jedes Foto mit männlichen Häftlingen sucht er ab nach einem verwandten Gesicht. Sein Urgroßvater wurde in Auschwitz ermordet. Den Spruch eines Mitschülers, auch sein Urgroßvater sei in Auschwitz umgekommen - "vom Wachturm gefallen"-, hört Peter nicht zum ersten Mal.

Die Mädchen haben mehr Fragen als ihre Klassenkameraden. Sie geben nicht vor, schon alles zu wissen. Sabrina und Carolin entdecken in dem Mitarbeiter des Museums Auschwitz einen Zeitzeugen. Der Mitte 60-Jährige hat mit seinen Eltern 12 Kilometer von Birkenau gewohnt. "Sie haben bestimmt noch nicht begriffen, was da passiert?", fragt eines der Mädchen. "Doch", antwortet der Mann, "oft sagten die Eltern, heute verbrennen sie dort wieder Juden." Die Züge hätten alle gesehen und gewusst, wohin sie gehen.

Auf dem Gelände des Lagers Birkenau die Wege zu gehen, die die Deportierten gegangen sind, empfindet Agnieska als "krass". Krass ist das Wort, dass die Jugendlichen für starke Eindrücke haben.

Solange es der immer etwas zu eilige Rundgang über das Gelände erlaubt, betrachten die Mädchen die neue Fotoausstellung in der so genannten Sauna von Birkenau. Auf den zufällig erhalten gebliebenen 2400 Familien- und Urlaubsbildern der Juden aus Bedzin und Sosnowiec sehen sie lachende Männer, Frauen, Kinder. Ein grauenvoller Eindruck für Agnieska und Sabrina: "Eben haben sie noch am Strand gespielt und gelacht, und dann wurden sie in Häftlingskleidung durch das Lager getrieben."

Jenseits der großen Worte

Die Lehrer aus Berlin und Moskau versuchen, Momente der Besinnung jenseits großer Worte und Gesten zu stiften. Hinter der Gaskammer und dem Krematorium im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz I schlagen sie den Jugendlichen vor, sich in einem Kreis aufzustellen und einander die Arme um die Schultern zu legen. Alle sind einverstanden, schweigen minutenlang. In Birkenau werden die mitgebrachten Rosen nicht kollektiv am Mahnmal niedergelegt. Jeder Schüler kann sich selber einen Ort suchen, an dem er der Ermordeten gedenken möchte. Einige legen ihre Blume am Ufer des Teiches hinter dem Krematorium aufs Wasser. Auf dem Grund liegt die Asche der Toten, hatte der Mitarbeiter der Gedenkstätte gesagt. Bewegt hocken die Jungen und Mädchen am Ufer und blicken den treibenden Rosen hinterher. Ein wichtiger Augenblick in der Millimeterarbeit des Gedenkens.

Nach dem Schock des ersten Lagerrundgangs sollen die Kinder Worte finden. In einem Brief an einen Häftling, an ihre Großeltern oder eine beliebige andere Person könnten sie ihre Eindrücke besser verarbeiten, als im unmittelbaren Gespräch, glaubt Olga Leonteva, eine der Moskauer Lehrerinnen. Wieder sind die Mädchen mitteilsamer. Tanja, eine Moskauer Schülerin, schreibt an einen KZ-Häftling, der nach einem Fluchtversuch erschossen wurde: "Der Arzt teilte Männer, Frauen und Kinder in zwei Gruppen. Erst später hast du verstanden, dass du sie nie wieder sehen solltest ... Ich knie nieder vor Dir, dafür, dass Du die Kraft gefunden hast, zu fliehen." Mathias sagt, er wolle versuchen, an einen SS-Mann zu schreiben. Einerseits hätten sich die Wachmänner im Vernichtungslager an entsetzlichen Verbrechen beteiligt, andererseits seien sie bereit gewesen, für ihre Ideologie zu sterben. Hinterher will er den Brief nur seinem Lehrer zum Lesen geben.

Müde wie immer am letzten Tag einer Klassenreise sind die Schüler im Zug zurück nach Berlin. Was für Fragen stellen sie nun? Die Jungen wollen über das Berliner Mahnmal für die ermordeten Juden Europas diskutieren. "Über fünfzig Jahre später klatschen sie uns das hin, jetzt wo es keinen mehr interessiert", sagt Mathias. Tobias nickt dazu. Aber eigentlich, sagt er, hätten sie jetzt andere Sorgen. Das zehnte Schuljahr geht zu Ende, er und einige andere stehen kurz vor dem Hauptschulabschluss. Einen Ausbildungsplatz hat kaum einer. "Wir stehen jetzt unter ziemlichem Druck."

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