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Gesundheit: „Bald haben wir keine freie Arztwahl mehr“

Beim Treffpunkt Medizin und Fitness des Tagesspiegels wurde diskutiert, wie das Gesundheitswesen reformiert werden kann

„Warum sind in Deutschland die Medikamente viel teurer als in anderen Ländern?“ – „Aus welchem Grund wird die Positivliste abgelehnt?“ – „Wo bleiben denn die Chronikerprogramme?“ – „Warum gibt es in den Städten fast nur noch Schwerpunkt-Kliniken? Seinen Blinddarum könnte man sich doch in einem ganz normalen Krankenhaus operieren lassen?“ Solche Fragen aus dem Publikum zeigten, dass auch Patienten den Ernst der Lage im Gesundheitswesen erkannt haben und dass sie zum Mitsparen bereit sind.

Lebhaft diskutiert und auch gestritten wurde beim 22. Treffpunkt Medizin und Fitness des Tagesspiegels. Der fand diesmal im gut besetzen Humboldt-Saal der Urania statt, wie immer moderiert von dem Fachjournalisten Justin Westhoff. Das aktuelle und brisante Thema: „Gesundheitspolitik nach der Bundestagswahl – Wo bleibt der Patient?“

Ja, wo bleibt er denn? Auch auf diesem Podium saßen lauter Experten, darunter immerhin einer, der direkt die Patienteninteressen vertrat: Thomas Isenberg, Leiter des Fachbereichs „Gesundheit und Ernährung“ der Verbraucherverbände. Er erhielt den ersten Beifall des Abends, als er die Regierung mit ihrer Absichtserklärung beim Wort nahm, die Patientensouveränität zu stärken und für mehr Transparenz zu sorgen. Er forderte, den Verbrauchern und potenziellen Patienten Informationen – etwa über die Qualität von Krankenhäusern – nicht länger vorzuenthalten, sie endlich in den Gremien als „dritte Kraft“ an der Gesundheitspolitik zu beteiligen und nicht mehr über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu entscheiden.

Auch Jörg Robbers, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, hatte nichts dagegen, die Leistungen der Kliniken transparenter zu machen. Klaus Theo Schröder, beamteter Staatssekretär in Ulla Schmidts erweitertem Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung, bekräftigte: Die Patienten brauchen mehr Möglichkeiten, sich im Gesundheitswesen zu artikulieren und zum Beispiel beim Erarbeiten von Behandlungsleitlinien mitzuwirken.

Eine Teilnehmerin aus dem Saal wandte ein, Ärzte hätten es gar nicht so gern, wenn Patienten aufgeklärt seien. Sie arbeiteten auch nicht „vernetzt“. Man werde von einem zum anderen geschickt, und das führe zu teuren Mehrfach-Untersuchungen. Ein chronisch Kranker beklagte sich, bei seiner ambulanten Therapie bezahle die Kasse nicht das Taxi – „aber eine Krankenhausbehandlung wäre doch viel teurer!“ Worauf Gesundheits-Staatssekretär Schröder feststellte, die „sektorale Budgetierung“ führe eben zur Fehlsteuerung, und man müsse „die Kooperation über die Sektoren hinweg im Interesse der Patienten optimieren“.

Das Abstraktionsniveau der Fachsprache ging manchen Teilnehmern über die Hutschnur: „Das ist alles so abgehoben und theoretisch“, klagte eine Diskutantin. „Wissen Sie eigentlich, wie oft die Patienten in den Praxen schon abgewiesen werden?“ Sie erwähnte die Grippeimpfung, die auf Kosten der Kasse beim Hausarzt nicht mehr möglich sei. „Wir werden immer weiter entmündigt und haben bald keine freie Arztwahl mehr!“

Kein Wunder, dass im Moment allen Experten „ein gewisses Misstrauen“ der verunsicherten Patienten entgegenschlägt, wie Moderator Westhoff feststellte. Die Probleme des kranken Gesundheitswesens sind verwirrend vielschichtig. Einige davon streiften die Experten beim rhetorischen Eilmarsch quer durch diesen Dschungel. Warum laufen die Kosten davon? Einen der Gründe nannte Martin Paul, Dekan des FU-Fachbereichs Medizin: Es sei „ein grundlegendes Missverständnis zu glauben, dass Äzte ihre Patienten heilen“. Sie sorgten vielmehr dafür, dass sie länger und besser leben – „und das ist teuer“.

„Wir stehen finanzmäßig mit dem Rücken zur Wand, weil die Einnahmen weggebrochen sind“, sagte Eckart Fiedler, Vorstandsvorsitzender der Barmer Ersatzkasse. Der Ausgabenanstieg sei durchaus vertretbar, außer bei der Arzneitherapie, denn es würden noch immer Medikamente ohne eindeutigen Nutzen hergestellt und verordnet.

„Es ist richtig, dass die Arzneimittelausgaben gestiegen sind und weiter steigen werden“, stimmte Cornelia Yzer ein. Die Geschäftsführerin des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller verteidigte aber die Medikation als „wirtschaftlichste Form der Behandlung“ und deren Kosten mit dem hohen Aufwand für die Forschung.

Im Gesundheitswesen gebe es durchaus noch Wirtschaftlichkeitsreserven, durch Einsparungen allein sei aber der medizinische Fortschritt nicht zu bezahlen, meinte Manfred Richter-Reichhelm, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Rationalisierung ist zwar unerlässlich; wird sie aber die Rationierung sinnvoller medizinischer Leistungen verhindern können? Staatssekretär Schröder beteuerte, es werde durch die nächstes Jahr zu erarbeitende grundlegende Reform, die auf das Vorschaltgesetz folgen wird, „keine Einschnitte ins Leistungsspektrum geben, wo es effizient ist“.

Was muss geändert werden? Das skizzierte Rolf Rosenbrock, Mitglied des Sachverständigenrats für das Gesundheitswesen, in Anlehnung an dessen Gutachten zur Über-, Unter- und Fehlversorgung: „Die deutsche Gesundheitspolitik ist nach wie vor ziellos – wir brauchen erst einmal eine Zielorientierung.“ Die Patienten würden noch immer „passiviert“.

Ärzte und Kassen seien nicht auf die Langzeitbehandlung und Rehabilitation chronisch Kranker eingestellt, noch weniger auf die Prävention, mit deren Methoden sich „ein Viertel der Krankenbetten glatt verhüten“ lasse. Ambulante und stationäre Versorgung müssten endlich integriert, Nutzen und Qualität medizinischer Maßnahmen gesichert werden. Dann wäre unser 130 Jahre altes Gesundheitssystem wahrscheinlich zu retten – zum Wohle der Patienten.

Der Treffpunkt Medizin & Fitness des Tagesspiegels wird gefördert von der Barmer Ersatzkasse, der Kassenärztlichen Vereinigung, ID – Information und Dokumentation im Gesundheitswesen, Schering, dem Uniklinikum Benjamin Franklin, der Sonnenfeld-Stiftung und der Urania.

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