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Gesundheit: Beim Austauschdienst in Wolgograd - russische Klischeebilder hautnah erleben

Stalingrad. Der Name weckt Unbehagen.

Stalingrad. Der Name weckt Unbehagen. Wie denken die Menschen in einer Stadt, deren gesamte männliche Bevölkerung die Nazis beseitigen wollten, weil sie die Einwohner für besonders gefährliche Kommunisten hielten? Viel lässt sich von Deutschland aus nicht über die südrussische Stadt erfahren: 90 Kilometer zieht sie sich am rechten Ufer der Wolga entlang; 1,3 Millionen Einwohner gibt es hier, kalte Winter und heiße Sommer. Rekordtemperaturen von 40 Grad würden mir wohl erspart bleiben: Der Arbeitsvertrag vom Deutsch-Russischen Austauschwerk (DRA) galt für sechs Monate von November bis April.

Der November bringt Regen und verwandelt den lehmigen Vorplatz vor meinem 80er Jahre Hochhausblock in eine Pfützenlandschaft. Die aufgerissene Baugrube wird zum Teich, den ich umschliddern muss, um zum Markt zu kommen. Auf roten Kühlerhauben liegen hier vom Dauerregen zerzauste schwarz-weiße Kuhköpfe mit heraushängenden Zungen, Rinderstücke werden von Männerarmen auf einem 30 Zentimeter hohen Holzklotz mitten in einer Pfütze entzwei geschlagen, Fische liegen in Plastikkörben im Matsch - wieder in ihrem Element. Klischeebilder von sowjetischer Mangelwirtschaft verschmelzen mit der Wirklichkeit postsowjetischer Improvisationsgesellschaft.

Krass ist die Begegnung mit der steinernen "Mutter Heimat", die das imposante Mahnmal für die Stalingrader Schlacht auf dem Mamaev-Hügel überragt: ein riesiges schwertschwingendes Superweib. Wolgograd, die Heldenstadt. Der russische Lebensalltag ist herb und beschwerlich. Freundlichkeit steht nicht auf der Tagesordnung, Schlangestehen schon. Während der ersten Orientierungsphase quält sich die westeuropäische Passantin mit Vergleichen zwischen eigenen und hiesigen Wertmaßstäben.

Die Büroarbeit bringt schließlich einen untouristischen Blick auf die Wirklichkeit. Zu begreifen, wie sich die vom Diakonischen Werk finanzierte Zusammenarbeit zwischen dem DRA in Wolgograd und seiner russischen Partnerorganisation, dem Wolgograder Zentrum zur Unterstützung von nichtkommerziellen Organisationen, entwickelt hat, dauert. Neben der Einrichtung von Sozialstationen hat sich das Büro zu einem Ressourcenzentrum entwickelt, das Literatur zum dritten Sektor (non-profit-Bereich) bereithält und Seminare sowie juristische Beratung für Non Governmental Organizations anbietet. Diese Bürgerbewegungen wurden duch die Unfähigkeit des Staates, Armen und Kranken auch nur das Existenzminimum zu gewährleisten, auf den Plan gerufen. Mit dem von der Oligarchie korrumpierten politischen System sind sie genauso konfrontiert wie mit dem weitverbreiteten trotzigen Skeptizismus, die russische Wirklichkeit werde sich niemals zu einer demokratischeren Gesellschaft wandeln.

Mit dem "pjatnik" ist freitags der Höhepunkt meiner Arbeitswoche erreicht. Abends sind Menschen eingeladen, die Deutsch sprechen möchten. Zumeist kommen Germanistikstudierende, die teilweise atemberaubend gut Deutsch können, die wenigen Russlanddeutschen schwäbeln in einer nicht mehr geläufigen Mundart, manche radebrechen nur.

Meine Idee, eine Broschüre über die Wolgograder Frauenbewegung zu schreiben, verblasste bald. Die Geschlechterbilder der Russen erwiesen sich als extrem rückwärtsgewandt. Die Vertreterin einer Organisation für alleinstehende Mütter gab mit Gewissheit zum Besten, dass eine Frau, die keine Kinder bekomme, keine Frau sei. Der Umstand, nichts über Feminismuskonzepte zu wissen, hinderte ihre Kollegin nicht daran, emphatisch auszurufen: Russinnen werden niemals zu Feministinnen werden!

Ein deutsch-russisches Filmfestival zu organisieren, fand hingegen bei der Leiterin des Wolgograder Projektes sofort Anklang. Als Kulturaktion einer nichtkommerziellen Einrichtung war die Bedingung natürlich freier Eintritt. Das bedeutete, dass ich im Grunde kostenlose Filme auftreiben musste. Das Konzept des Festivals mit dem Titel "Tage des deutschen und russischen Films der 90er Jahre" beruhte auf dem Vergleich filmischer Methoden und aktueller Themen, an denen sich die Befindlichkeiten der Menschen in beiden Umbruchgesellschaften ablesen lassen.

Die Wirklichkeit der russischen Kinolandschaft ist traurig. Löhne und Gehälter der Angestellten des Kinoverleihs sind auf einem geradezu peinlichen Niveau angelangt. An die Ausbesserung der Archive ist nicht zu denken. Kultur kommt kurz in Krisenzeiten. Kino ist vor allem in den russischen Provinzen längst dem Videokonsum gewichen. Frappierend war deshalb die Begeisterung, auf die mein Anliegen stieß. In Moskau versprach man Weitreichendes: für vier 35-mm Filme sollte eine "symbolische Summe" von 500 Rubeln (etwa 45 Mark) bezahlt werden, bei der Abholung wurde der Preis dann allerdings frech verdreifacht.

Zum zweifellos größten Hindernis wurde aber ab April der Kosovokrieg. Gerade in einer Stadt wie Wolgograd ist es denkbar gewagt, deutsche Kultur zeitgleich mit der Wiederbelebung deutscher Kriegstradition in den öffentlichen Vordergrund zu heben. Die politische Vernunft gebot, auf die Bewilligung der Wolgograder Gebietsadministration und des Kulturministeriums zu warten, die schließlich grünes Licht gaben.

Aufgekratzt nahmen die Leute am Festival und an der Ermittlung des besten Films teil. Unvergessen sind Momente wie die Begegnung mit einer aufgebrachten Zuschauerin, die sich bei mir über die "verdorbenen und jugendgefährdenden" Filme beschwerte. Die Diskussion darüber, was Kino mit Zeit und also mit persönlichen Lebensabschnitten zu tun hat, glättete jedoch den Zorn und berührte das Empfindliche. Für einen Moment füllten sich die Augen der Zuschauerin randvoll mit Tränen.

Aus sechs wurden zehn Monate. Eine Wanderung durchs europäische Russland, mal ins südliche Astrachan, nach Asien, Novosibirsk. Vielleicht führt sie von Deutschland auch wieder zurück. Denn nach Wolgograd ist vor Wolgograd!Deutsch-Russischer Austausch e. V., Brunnenstr. 181, 10119 Berlin, Tel. 030/44 66 80-0, Fax: 44 49 46 0; Internet: www.austausch.com . Constanze Stoll berichtet dort heute um 17 Uhr beim Tag der offenen Tür von ihren Erfahrungen in Russland.

Constanze Stoll

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