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383 Menschen haben sich 2012 in Berlin mit dem Virus infiziert. 84 Prozent davon waren Männer, die ungeschützten Sex mit Männern haben, rund vier Prozent nahmen Drogen.

© dpa

Berlin: Zum ersten Mal zur HIV-Beratung: Angst vor den Folgen der Nacht

Einmal beim Sex nicht aufgepasst – schon ist die Unruhe da. Ein Test hilft. Das Warten auf die Ergebnisse wird zur Qual. Zweifel kommen auf. Was ist, wenn ich schon jemanden angesteckt habe? Ein Berliner erzählt, was er in einer Kreuzberger HIV-Beratung erlebt.

Blut perlt auf meiner Fingerkuppe. Gerade hat Robert (alle Namen geändert), ein Arzt in einer Kreuzberger HIV- und Drogenberatung, mir eine kleine Lanzette in den Mittelfinger gejagt. Dieser kleine rote Tropfen auf meiner Fingerspitze wird offenbaren, ob ich mich mit dem HI-Virus infiziert habe und, was noch schlimmer wäre, ob ich meine Freundin angesteckt habe.

Rückblende Dezember 2012: In einem bekannten Szeneschuppen in Friedrichshain tanzen wir dicht gedrängt, Schweiß rinnt über die Stirn und über uns funkeln die Lichter einer Discokugel. Ich tanze schon eine Weile, da läuft er an mir vorbei, seine Hand fährt über meinen Bauch, ganz zufällig, klar. Ich schaue ihm hinterher. Er lächelt, ich lächle. Wir tanzen, trinken, torkeln. Dennis ist süß, deshalb küsse ich ihn. Wenig später schleichen wir uns zur Toilette. Weiße Streifen überziehen eine schwarz lackierte Ablage hinterm Spülkasten. Ich weiß, woher die Spuren stammen und ich will auch etwas davon. Dennis packt ein Päckchen aus, in dem sich weißes Pulver befindet: Ketamin. Der Stoff wird eigentlich bei Knochenbrüchen verabreicht, um den Schmerz zu stillen. In kleinen, sehr kleinen Dosen kann er aber die Welt noch bunter machen, als sie es in dieser Nacht ohnehin schon war. Wir benutzen denselben zusammengerollten Zehn-Euro-Schein, um eine Bahn zu ziehen. Das Ketamin katapultiert mich in eine andere Sphäre und das, was Dennis an meiner aufgeknöpften Hose macht, tut das Übrige hinzu. Es war eine schöne Nacht, nur „safe“ war sie nicht. Schon kleine Blutreste an dem Geldschein genügen, um Hepatitis B oder C zu übertragen. Diese Viren sind ungleich virulenter, also ansteckender als HIV.

Lange Zeit war mir das Risiko egal - bis ich mich verliebte

Lange Zeit war mir das egal, denn ich musste mich nur vor mir selbst verantworten. Doch dann zog mich eine Frau in ihren Bann. Dem Sex folgte die Liebe. Der Liebe das schlechte Gewissen. Warum ich den Test nicht gleich gemacht habe, nachdem ich sie kennenlernte? Weil das HI-Virus erst drei Monate nach einer Risikosituation sicher nachweisbar ist. Ein Hepatitis-C-Test ist nach sechs Wochen sinnvoll. Eine Syphilis wird frühestens nach drei Wochen erkannt, kann aber mit Sicherheit erst zwölf Wochen nach einer möglichen Infektion ausgeschlossen werden. Die Kreuzberger HIV- und Drogenberatung bietet alle drei Tests für 15 Euro an. Erwerbslose, Studenten und Bedürftige können sich kostenlos untersuchen lassen – auch Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis. Vor dem Test muss ich einen Fragebogen ausfüllen. „Der ist anonym und gilt nur der Risikoeinschätzung“, versichert Robert.

Ich kritzele Häkchen bei männlich, 27 Jahre, Drogenkonsum. „Spritzen sie Drogen“, verneine ich. Und dann kommt die Frage nach der sexuellen Präferenz. Ich zögere, lasse mit meinem Daumen die Kugelschreibermine klackernd auf und ab springen, entscheide mich dann aber gegen die Kategorie „hetero“ und für „bisexuell“. Wenn ich mich schon in eine Schublade stecken muss, wähle ich die geräumigste. „Gibt es jemanden, der dich auffängt, wenn der Test positiv ist?“, fragt Robert. Zum Glück fallen mir einige gute Freunde ein.

Bei einem positiven Test helfen Sozialarbeiter der Beratungsstelle einen Facharzt zu finden, regeln Probleme mit der Krankenversicherung, dem Jobcenter oder der Justiz – einige Klienten sind immerhin süchtig und haben mit Beschaffungskriminalität zu kämpfen.

Warten auf den einen blauen Punkt

Nun folgen die eigentlichen Tests: Der Arzt sticht mit einer Lanzette in die Kuppe meines linken Ringfingers und saugt mit einer ersten, für den HIV- Schnelltest bestimmten Pipette das perlende Blut auf. In einen teelichtgroßen Napf kippt er den Inhalt von drei kleinen Ampullen zusammen, eine enthält eine blaue Flüssigkeit, die später das Ergebnis anzeigen wird. „Wenn sich in einer Viertelstunde ein blauer Punkt bildet, ist alles okay“, erklärt er und träufelt mein Blut aus der Pipette in den Napf. Bilden sich zwei Punkte, bin ich positiv. Dann wäre nichts okay. Dann wäre ich vielleicht Nummer 384. Denn 383 Menschen haben sich 2012 in Berlin mit dem Virus infiziert. 84 Prozent davon waren Männer, die Sex mit Männern haben, rund vier Prozent nahmen Drogen. Dank der antiretroviralen Therapie ist HIV zu einer chronischen Krankheit geworden, mit der man oft noch Jahrzehnte gut leben kann. Aber letztlich endet sie immer noch tödlich. Allein 2012 verloren 80 Berliner den Kampf gegen den Virus. 4600 sind es seit Ausbruch der Epidemie.

Mit seinen in Plastikhandschuhe gehüllten Fingern drückt Robert noch mal nach, um aus meinem Finger einen zweiten saftigen Bluttropfen zu pressen. Die zweite Pipette ist für den Hepatitis-Schnelltest bestimmt. Diesmal sind es Streifen, die eine Infektion verkünden. Und auch hier ist mehr weniger, denn ein Strich auf dem Testpapier bedeutet negativ, zwei Streifen hingegen positiv, also infiziert. Im Jahr 2012 zeigten sich 600 Mal in Berlin beide Streifen, 51 Betroffene waren an Hepatitis B erkrankt und 549 am Typ C.

Wer will schon immer vernünftig sein?

Zuletzt folgt ein Syphilis-Test, dessen Ergebnis ich erst eine Woche nach der Blutentnahme erfahren werde, da die Probe in ein Labor geschickt werden muss. Für diesen Test ist mehr Blut als für die beiden Schnelltests notwendig. Deshalb zapft der Arzt eine Vene in meiner Ellenbeuge an, um zwei Ampullen abzufüllen. Besonders im freizügigen Berlin ist die Syphilis seit Jahren auf dem Vormarsch. Während 2002 noch 425 Erkrankungen gemeldet wurden, waren es ein Jahrzehnt später 730. 82 Prozent davon entfallen auf Männer, die Sex mit Männern hatten. Nun heißt es warten. 20 lange Minuten.

Ich verlasse die Kreuzberger Beratungsstelle und laufe ein Stück. Der Wolkenschleier über Berlin bricht auf, Schneereste glitzern in der Sonne. Doch die Luft ist immer noch arktisch kalt. An der Skalitzer Straße setze ich mich auf die eisigen Steinstufen der Emmaus-Kirche, schaue den gelben U-Bahnen zu, wie sie über die Hochtrasse rattern, und versuche meine Gedanken zu ordnen. Was wenn ich sie angesteckt habe? Ich wage es nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken – oder vielleicht bin ich auch zu feige. Dabei ist das Verdrängen der Krankheit genau das, was sie so gefährlich macht. Andererseits: Wer will schon immer vernünftig sein? Es sind ja gerade Alltag und Vernunft, die ich beim Feiern hinter mir lassen will. Zumindest den Test kann man regelmäßig machen – er geht schnell, ist unkompliziert und rechtfertigen muss man sich auch nicht.

Ich habe diesmal Glück gehabt. „Alles in Ordnung“, sagt Robert gelassen und drückt mir zum Abschied noch ein Päckchen mit kurzen Strohhalmen, einer Plastikkarte und Desinfektionsmittel in die Hand. Das ist alles, was man braucht, um eine Infektion beim Sniefen zu verhindern: Strohhalme, die man nur allein benutzt, Desinfektionsmittel, um die Unterlage zu säubern, und eine Karte, um den Stoff klein zu machen. „Pass auf dich auf“, sagt Robert zum Abschied.

Aufgezeichnet von Frieder Piazena

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