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Verständnis. Die Patienten sollen sich in der Krise nicht allein fühlen. Foto: M. Wolff

© Mike Wolff, TSP

Gesundheit: Betreut durch die Krise

Ein Behandlungszentrum in Lichtenberg hilft geistig Behinderten und psychisch Kranken in besonders schweren Lebenssituationen.

Nicole Gutzoff hat gleich Feierabend – es war eine gute Schicht für die Heilerziehungspflegerin. „Heute konnten wir wieder jemanden entlassen“, sagt die 31-Jährige strahlend. Als der Patient vor mehreren Wochen ein Bett auf der Station bezog, war das seine letzte Anlaufstelle. „Er war so verhaltensauffällig, dass ihn keine Einrichtung mehr nehmen wollte“, sagt Samuel Elstner. Der 44-Jährige ist der Leitende Arzt des Berliner Behandlungszentrums (BHZ) für Menschen mit geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung. Der Patient, der gerade entlassen wurde, sei mit massiven Aggressionen in das Zentrum im Lichtenberger Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge gebracht worden. „Er hat Schränke kaputt geschlagen, er hat uns geschlagen“, sagt Gutzoff. Doch statt ihn am Bett zu fixieren, hat das Personal die Möglichkeiten auf der Station genutzt, dem Patienten das Gefühl zu geben, dass er in der Krise nicht allein ist. Dazu gehört zum Beispiel das Austoben im orange gepolsterten „Time-Out-Raum“. Dessen Tür mit kleinem Fenster steht sonst offen, damit er nicht wie ein Ort der Strafe wirkt.

„Die Aggressionen des Patienten sind von Tag zu Tag weniger geworden“, sagt Gutzoff. Der Patient habe in diesen Tagen im Behandlungszentrum wahrscheinlich den Abnabelungsprozess von den Eltern durchlebt – als Erwachsener, doch mit der sozio-emotionalen Entwicklung eines Eineinhalbjährigen. Er musste lernen, wo die Grenzen zum anderen liegen, dass man niemanden schlagen darf. Und dass auch in der Krise jemand für ihn da ist.

All das leistet das Personal im BHZ. Es hat als Spezialeinrichtung seit der Gründung im Jahr 2000 einen Behandlungsauftrag für den gesamten Berliner Raum. Jährlich sind es bis zu 350 stationäre Patienten, die Warteliste ist immer voll. In der Ambulanz sind es mehr als tausend Fälle pro Jahr. Denn während es in den Niederlanden sogar einen Facharzt für Menschen mit geistiger Behinderung gibt, ist das medizinische Personal hierzulande meist nicht entsprechend ausgebildet und schon mit der Diagnosestellung überfordert. „Viele der Patienten können noch nicht einmal sagen: Mir geht es schlecht“, sagt Samuel Elstner. So kam in den Anfängen ein Patient ins BHZ, der sich konsequent weigerte, zu laufen. Die Ärzte stellten erst hier fest, dass er einen Oberschenkelhalsbruch hatte.

Wenn die Patienten aufgenommen werden, liegt eine Schilderung vor, dass sich ihr Verhalten auffällig verändert habe. Im Schnitt bleiben sie mehrere Wochen im BHZ. Dort gilt es, die Ursache zu finden und gegebenenfalls hier zu behandeln – sei sie körperlich, etwa im Fall eines Magengeschwürs, oder psychisch wie im Fall von Depressionen. Manchmal leben die Patienten auch noch nicht im optimalen Umfeld und werden dort in ihren Fähigkeiten über- oder unterschätzt. Auch das kann zur Krise führen.

Für die Diagnose und die Versorgung der Patienten benötigt das Personal viel Zeit. Das BHZ hat zwei Stationen: eine für die Patienten, die sich sprachlich äußern können und eine für die, die wenig oder nicht verbal kommunizieren. Auf beiden Stationen sind bis zum frühen Nachmittag vier bis fünf Pfleger für jeweils bis zu 16 Patienten zuständig. „Es ist wichtig, dass wir hier interdisziplinär zusammenarbeiten, damit wir uns ein möglichst umfassendes Bild vom Patienten machen können“, sagt Samuel Elstner. Zu Ärzten und Pflegepersonal kommen Kunst-, Musik-, Physio-, Ergo- und Gartentherapeuten. Patienten, die verbal kommunizieren, können eine Psychotherapie machen.

Platz zur Stabilisierung der Patienten ist außerdem reichlich, mit Gartenanlage, Therapiegarten, Sportplatz, Aufenthaltsraum und im „Snoezelen-Raum". Der ist zur Entspannung mit Wasserbett, Discokugel, LED-Leuchtfäden und einer sprudelnden Wassersäule ausgestattet. Doch man habe darauf geachtet, dass es nicht allzu wohnlich werde, sagt Samuel Elstner – das BHZ sei schließlich ein Krankenhaus. „Die Patienten sollen nicht hierbleiben.“ Der Geräuschpegel auf der Station ist konstant ziemlich hoch. Viele Patienten „lautieren“. „Sie wiederholen zum Beispiel Silben und Wörter und äußern sich damit akustisch“, sagt Behandlungszentrumsleiter Elstner. Geht die Klingel an der verschlossenen Tür, herrscht meist helle Aufregung. Jetzt steht ein Patient vor der Tür und zieht die Hosen runter. Ein weiterer Patient schlurft über den Gang, hält am Sofa und guckt auf die Frau, die dort im Nachthemd liegt. Sie beginnt laut zu weinen, bis ein Pfleger sich zu ihr setzt und sie beruhigt. Als der wieder geht, fängt sie an zu schimpfen.

Es ist eine Herausforderung für das Personal: Die Stimmung kann vom einen Moment auf den nächsten kippen. „Es ist wichtig, mit dem Patienten eng zu sein und ihm Halt zu geben. Aber es kann auch passieren, dass er mich verletzt oder schlägt“, sagt Samuel Elstner. Das Personal muss auf kleinste Frühwarnzeichen achtgeben. Dafür gibt es Trainings zu Deeskalationsmaßnahmen. Außerdem erhält das Team Richtlinien an die Hand, wie etwa die Sechs-Sekunden-Regel: Stellt man einem Patienten eine Frage, gibt man ihm sechs Sekunden Zeit, bevor man nachfragt oder die Frage anders formuliert. Alles andere setzt die Patienten unter Druck. Die ständige Kommunikation im Team und die regelmäßige Besprechung einzelner Fälle ist zudem sehr wichtig für einheitliche Handlungskonzepte – damit der Patient weiß, was er zu erwarten hat. Unter den außergewöhnlichen Umständen ist es nicht einfach, personellen Nachwuchs zu finden. Denn seien in Pflegeeinrichtungen mal ein, zwei Bewohner in einer akut schlechten Phase – „bei uns sind alle Patienten in der Krise“, sagt Nicole Gutzoff.

Auf der anderen Seite gilt jedoch: Das Personal, das sich für die Arbeit im BHZ entscheide, „ist mit ganzen Herzen dabei“, sagt Elstner. Nicole Gutzoff arbeitet hier seit zwölf Jahren. Seit vergangenem Jahr leitet sie eines der beiden Pflegeteams. Was die im BHZ erlebten, gehöre halt auch dazu, sagt Elstner. „Es ist eben eine Bandbreite des menschlichen Lebens.“

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