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Gesundheit: Bildung in Russland: Unterbezahlte Lehrer gefährden Schulreform

Natascha Dergatschowa ist 28 Jahre alt. Als sie die Universität beendet hatte, wollte sie gerne in der Schule arbeiten.

Natascha Dergatschowa ist 28 Jahre alt. Als sie die Universität beendet hatte, wollte sie gerne in der Schule arbeiten. Das war ihr Kindheitstraum. Und als Natascha das Angebot bekam, in einer der besten Schulen Russlands zu unterrichten, war sie sofort einverstanden. Diese Schule befindet sich im Zentrum von Saratow - einer alten südrussischen Stadt an der Wolga mit gut einer Million Einwohnern. Die Schule gilt als Elite-Einrichtung und wurde vor fast zehn Jahren zum Gymnasium mit fremdsprachlicher Ausrichtung umgestaltet. In einigen Fächern unterrichten sogar Universitätsprofessoren.

Oft haben hier mehrere Generationen aus einer Familie die Schulbank gedrückt: Großeltern, Eltern und Kinder. Um ihrem Nachwuchs den Besuch dieses Gymnasiums zu ermöglichen, sind viele Eltern bereit, Geld zu zahlen. Das geschieht entweder offiziell in Form einer Spende oder inoffiziell als Schmiergeld. Man sagt, dass der Preis für die Aufnahme etwa 15 000 bis 20 000 Rubel beträgt. Das entspricht dem durchschnittlichen Jahresarbeitslohn. Dabei soll eigentlich der Schulbesuch kostenlos sein.

Aber jetzt, nach vier Jahren als Lehrerin, rät Natascha ihren Freunden davon ab, ihre Kinder auf dieses Gymnasium zu schicken. Obwohl das Schulprogramm weiterhin sehr schwer ist, entspricht inzwischen das professionelle Niveau vieler Lehrkräfte nicht mehr den hohen Ansprüchen des Lehrplans. Der Grund: In den letzten fünf Jahren haben viele Lehrer wegen des niedrigen Lohns die Schule verlassen, neue sind gekommen, aber nicht unbedingt die Besten.

In Russland wird derzeit eine große Diskussion über die längst fällige Bildungsreform geführt. Nach den zahlreichen Entwürfen allein in den letzten zehn Jahren veröffentlichte jetzt das Regierungszentrum für strategische Konzeptionen sein eigenes Programm. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Bildungspolitik in die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung des Landes einbezogen werden soll.

Das Programm sieht eine vollständige Änderung des Bildungssystems vor, und zwar vom Kindergarten bis zur Universität. Priorität bekommt der Übergang von der elfjährigen zur zwölfjährigen Schulbildung. Die Berufsbildung wird an den Marktbedürfnissen orientiert, die Einführung von Informationstechnologien soll beschleunigt werden. Schließlich gibt es noch eine Neuerung: Ein einheitliches Staatsexamen soll das Abitur und die Aufnahmeprüfungen an den Hochschulen ersetzen. Für die Verwirklichung hofft Russland auf einen Kredit in Höhe von 200 Millionen Dollar von der Weltbank.

Der russische Bildungsminister Wladimir Filippov sieht für die Umsetzung der Reformen einen Stufenplan vor: "Vorläufig werden wir mit Experimenten in den Provinzen beginnen und nach drei bis vier Jahren einzelne Programmelemente im ganzen Land einführen." Aber nach der Veröffentlichung der Hauptthesen des Programms wurden die Autoren mit einer Welle der Kritik konfrontiert. Die heftigste Kritik wird an der Absicht geübt, jene Schüler, die später studieren wollen, zwölf Jahre statt bisher elf Jahre zur Schule zu schicken.

In den letzten 30 Jahren beendeten die meisten russischen (früher sowjetischen) Schüler die Schule mit der zehnten Klasse. In Russland lernen die Kinder an der Grundschule drei oder vier Jahre lang. Dann wechseln sie auf die Mittelschulen, die mit der zehnten oder elften Klasse abschließen. Mit 17 Jahren verließen fast alle die Schule. Viele Russen verstehen nicht, warum die Jugendlichen jetzt noch ein zusätzliches Jahr die Schulbank drücken sollen. Die Anhänger der Reform behaupten, dass derzeit der Inhalt der Schulausbildung zu konzentriert ist und man deshalb noch ein Schuljahr hinzufügen muss. Aber ein ähnliches Experiment wurde schon Ende der 80er Jahre versucht. Damals ging die Mittelschule von der zehnjährigen zu einer elfjährigen Ausbildung über. Aber tatsächlich lernen die Schüler nur zehn Jahre: Nach drei Jahren Grundschule kommen sie sofort in die fünfte Klasse.

Es gibt noch ein schwerwiegendes Argument gegen die zwölfjährige Ausbildung. Wenn die Jungen die Schule mit 18 Jahren beenden, werden sie automatisch von der Schulbank zum Wehrdienst eingezogen. Von 18 Jahren an gilt die allgemeine Wehrpflicht. Und sie haben dann keine Chance, gleich mit dem Studium zu beginnen. 17-jährigen Schulabgängern bietet sich dagegen die Möglichkeit, ein Studium zu beginnen und einen Aufschub des Wehrdienstes zu erreichen. Dieser Aufschub konnte viele junge Russen vor dem Wehrdienst in Tschetschenien retten. Manche konnten der Armee ganz entgehen. Daher erstaunt es nicht, dass nach Angaben des "Allrussischen Zentrums zum Studium der öffentliche Meinung" 58 Prozent der Russen gegen die Ausbildungsreform sind.

Unklar ist, wie das einheitliche Staatsexamen gestaltet werden soll. Es wird erwartet, dass schon im Juni 2001 Schüler aus den 15 Regionen Russlands das neue Examen ablegen werden. Das neue Examen besteht aus sechs Teilen und damit sechs Fächern. Jeder Schüler muss drei obligatorische Prüfungen und drei Prüfungen seiner Wahl ablegen. Alle Prüfungen werden nur in schriftlicher Form abgenommen, da bei mündlichen Prüfungen die Gefahr der Bestechung besteht. Aber um Betrügereien zu vermeiden, ist es notwendig, eine Kontrolle über die Ausbildungsqualität zu garantieren.

Wer soll das alles bezahlen? Für die neuen Strukturen braucht man Geld. Die Finanzierung ist schwierig, obwohl in Russlands Staatshaushalt für das Jahr 2001 zum ersten Mal die Ausgaben für Bildung steigen sollen: auf 45,8 Milliarden Rubel (fast 4 Milliarden Mark). Aber diese Summe ist nicht hoch. Das eigentliche Problem ist die Bezahlung der Lehrer. Eine der Thesen des Programms lautet: Es ist notwendig, "eine Verjüngung der Lehrerschaft, eine Erhöhung des Arbeitslohnes bis zu dem Niveau zu erreichen, dass eine neue qualifizierte Generation für den Beruf interessiert werden kann".

Im Frühling dieses Jahres erhielt ein junger Schullehrer nur 400 Rubel (zirka 30 Mark), das macht ein Drittel des mittleren Existenzminimums in Russland aus. Aber sogar diese geringe Summe wird nicht regulär ausgezahlt. Die Lehrer der älteren Generation bekamen ein bisschen mehr - umgerechnet bis zu 80 Mark. Es ist verständlich, dass heute in der russischen Schule nur Idealisten arbeiten oder diejenigen, die keine besser bezahlte Arbeit finden. Meist sind das ältere Frauen. Im Herbst hat sich diese Situation leicht verändert. Der Arbeitslohn wurde angehoben: Heute bekommen Lehrer eine "präsidiale Zulage". Ihr neuer Arbeitslohn kann 100 Mark betragen. Nun erhält die junge Generation außerdem in einigen Regionen eine "Gouverneurszulage". Zum Beispiel zahlt der Saratower Gouverneur Dmitrij Ajatskow den Lehrern noch 15 Prozent zusätzlich zum Lohn.

Swetlana Baulina

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