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Gesundheit: Bildungssystem: Gewinner und Verlierer

Die Pädagogen wissen, dass es Gewinner und Verlierer der Bildungsexpansion gibt. Die Gewinner sonnen sich im Licht der Aufmerksamkeit, über die Verlierer schweigt man, es sei denn, sie werden als Gewalttäter oder Rechtsextremisten auffällig.

Die Pädagogen wissen, dass es Gewinner und Verlierer der Bildungsexpansion gibt. Die Gewinner sonnen sich im Licht der Aufmerksamkeit, über die Verlierer schweigt man, es sei denn, sie werden als Gewalttäter oder Rechtsextremisten auffällig. In den Schulen wird immer mehr verlangt: Fremdsprachen von der ersten oder dritten Klasse an, der Unterricht in Mathematik und Naturwissenschaften wird verstärkt, weil Deutschland im internationalen Vergleich viel aufzuholen hat. Was bisher für Begabte als Expressabitur gedacht war, eine Verkürzung der Schulzeit auf 12 statt 13 Jahre, wird sich bald bundesweit als Normalmaß durchsetzen. Die Politiker setzen auf kürzere Schulzeit und konzentrierte Wissensvermittlung zugleich. Kann das aufgehen?

Viele der fremdenfeindlichen Gewalttäter sind an den Schulen gescheitert und haben Gründe, warum sie eine Konkurrenz von Ausländern fürchten. Oder sie versuchen dadurch, dass sie auf andere einschlagen, ihre mindere Qualifikation zu kompensieren. Die dumpfe gewalttätige Selbstüberschätzung hat ihre meisten Anhänger in niederen Bildungsschichten an Hauptschulen und in jenen Klassen, die im Schulverbund auf die Berufswelt vorbereiten. Realschulen und Gymnasien sind weit weniger betroffen.

Diese Thesen stellte Professor Roland Eckert auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Bildungsverwaltung heraus. Professor Eckert, an der Universität Trier tätig, hat 47 aggressive und gewalttätige Cliquen untersucht. Darunter waren sowohl Cliquen von deutschen als auch von türkischen Jugendlichen.

Immer wieder ist er auf das Grundphänomen gestoßen: Die meisten haben Probleme in unserem Bildungssystem gehabt - sie können ihre Marktfähigkeit und damit den Einstieg in die Berufswelt über die Schulen oder die Lehre nicht mehr erreichen. Es beginnt mit dem hartnäckigen Schuleschwänzen. Der Anteil der Schulschwänzer ist an Gymnasien und Realschulen gering, aber er steigt in den Hauptschulen und in Kreisen der Jugendlichen, die auf direktem Weg keine Lehrstelle gefunden haben, erheblich. Dauerhaftes Schuleschwänzen ist zugleich ein Prädikator für Ladendiebstahl und Gewalttätigkeit. Die Schulversager suchen den Anschluss in Freizeitcliquen und machen dort Ersatzkarrieren. Für sie ist die dort erlebbare Anerkennung eine ganz zentrale Frage.

Schulen haben in allen Industrienationen stark expandiert. Die Sorge der Eltern, ob ihre Kinder den Bildungsaufstieg schaffen, erzeugt in der Schule eine derartige Konkurrenz, daß sich heute schon siebenjährige Mädchen darüber unterhalten, ob sie das Gymnasium oder die Realschule erreichen werden. Auf der anderen Seite bildet sich mit dem Wechsel von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen die Gruppe derjenigen heraus, die nicht aufsteigen und daher keine Erfolge in der Schule einheimsen. Sie bestätigen sich wechselseitig in ihrer Abneigung gegen die Schule in der Freizeit. In diesen Cliquen entwickelt sich ein ganz anderes Selbstbewusstsein als in der Schule, ein Selbstbewusstsein schlagkräftiger Männlichkeit. Exzessiver Fernseh- und Videokonsum, möglichst angereichert durch Gewaltszenen, ist in diesen Kreisen verbreitet.

Professor Eckert sieht die Gegenwart nicht mehr durch die Klassenspaltung charakterisiert, sondern durch die Ausgrenzung einer neuen Unterschicht, die nicht mehr in ein normales Arbeitsverhältnis passt. Diejenigen, die Zertifikate in der Leistungsgesellschaft vorweisen können, verdrängten die Unqualifizierten an den Rand. Nach der Schulzeit folge dann eine Lebensperspektive als Kombination von Arbeitslosigkeit, Schwarzarbeit und Sozialhilfe. Der Jugendforscher forderte die Pädagogen auf, sich Gedanken darüber zu machen, wie die Schulen allen Jugendlichen Erfolgserlebnisse vermitteln können. Diese Erfolge ließen sich nicht durch die Fähigkeit definieren, am besten mit dem Computer umzugehen oder Spitze in Mathematik, Fremdsprachen und Naturwissenschaften zu sein. Kreative Fächer wie Sport, Musik oder Arbeitslehre könnten dagegen hilfreich sein. Eckert plädiert auch für Nachmittagsangebote an den Schulen - nicht als verlängertes Lernen, sondern als Freizeitgestaltung.

Für die neuen Länder kommt verschärfend hinzu, dass dort Arbeitslosigkeit in Zeiten der DDR ein unbekanntes Phänomenwar. Nach der Wende wurde die Arbeitslosigkeit zu einer neuen, von der Gesellschaft nicht akzeptierten Erfahrung. Aufgewachsen sind Jugendliche und heute Erwachsene in der Annahme, dass ihnen ein Arbeitsplatz zustehen müsste. Von daher könnten sie an die heutige Gesellschaft nur die Forderung richten, dass vorrangig den Deutschen in Deutschland ein Arbeitsplatz vermittelt werden muss. Menschen, die die Wiedervereinigung als Eintrittsbillett in die Wohlstandsgesellschaft verstanden hätten, wünschten bis heute nicht, dass jetzt Polen oder andere Osteuropäer im neuen Deutschland Arbeit erhalten.

Wieder ein ganz anderes Problem stellen die Ausländer dar, die in der zweiten Generation in Deutschland leben. Wenn sie sich eine ethnische und kulturelle Identität bewahrt haben, wird es nach den Beobachtungen von Professor Eckert sehr schwer, ihre Cliquen mit heranwachsenden Deutschen in Jugendzentren zu integrieren. Die Vorwürfe lauten: "Die gehen an unsere Mädchen heran und behalten ihre Mädchen unter Verschluss." In solchen Jugendheimen komme es statt zur gewünschten Begegnung zu Kämpfen um die Vorherrschaft.

Uwe Schlicht

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