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Gesundheit: Das bedrohte Gedächtnis der Welt

Alle brauchen Archive. Aber ihre Hüter müssen kämpfen: gegen Raub, Schimmel, Flammen und Desinteresse

Von Caroline Fetscher

Fasziniert erklärte Österreichs berühmtester Archivdirektor, Franz Grillparzer, der zugleich k.u.k. Hofkammer-Beamter wie Dichter und Dramatiker war, Mitte des 19. Jahrhunderts: „In sämtlichen Archiven zusammen liegt auch die Geschichte des Staates.“ Ja, in den Kisten und Faszikeln, den gebundenen Aktenvolumen und Dateikästen der Archive lagert das materialisierte Gedächtnis der Gesellschaften mit Schriftsprache. Ohne Erinnerung existieren wir nicht, weder als Gruppe noch als Gesellschaft. Auch die progressivste Avantgarde kommt nicht aus ohne ihre fixierten Gründungsgeschichten und Verlaufsprotokolle. Staaten, Kirchen, Organisationen, Verbände, Familien, Individuen – alle müssen erinnern. Alle brauchen Archive.

Im Rhythmus von vier Jahren, wie die Olympischen Spiele, versammeln sich die Spitzenkräfte unter den professionellen Gedächtnishütern zum Internationalen Archivkongress. Diesmal, in der letzten Augustwoche, war das „Austria Center Vienna“ am Stadtrand von Wien der Olymp der Erinnerungsexperten. Mehr als 2000 Archivarinnen und Archivare von China bis Kapstadt versammelten sich unter dem Motto „Archive: Gedächtnis und Wissen“ und widerlegten jedes Klischee vom „Staub“ der Archive.

Gerade Österreich, das nach dem Zweiten Weltkrieg seinen eigenen Mythos der „kollektiven Nicht-Schuld“ konstruiert habe, sagte Ferdinand Lacina, Bruno Kreiskys ehemaliger Kabinettschef, zum Auftakt der Konferenz, weiß heute sehr genau, was es den Archiven verdankt: nichts anderes als sein politisches Erwachen. Stück für Stück war die Wahrheit über die NS-Geschichte aus dem Dunkel der Akten ans Licht gerückt. Ein „schlafendes Gedächtnis“ taufte der Gastredner und Schriftsteller Gerhard Roth, Autor des Romanzyklus „Die Archive des Schweigens“, jene katalogisierten Bestände der Vergangenheit.

„Archive sind hochpolitische Institutionen“, erklärte András Riedlmayer: „Es ist den wenigsten bewusst, aber die Macht über das Archiv bedeutet die Verfügungsgewalt über die Vergangenheit und die Zukunft“. In seinem Vortrag über das Kulturerbe in den Zerfallskriegen Jugoslawiens lieferte der Harvarder Bibliothekar und Orientalist erschütternde Belege für seine These. Parallel zur „ethnischen Säuberung“, das weist Riedlmayers Forschung akribisch nach, zielten die Aggressoren mit Kalkül auf das Gesamtarchiv einer Gesellschaft. So stand tagelang die alte Bibliothek von Sarajevo in Flammen, brannten Serben 1200 Moscheen in Bosnien nieder und attackierten dort nahezu jedes Archiv. Katasterdaten, amtliche Register, Urkunden, Dokumente und Protokolle gingen in Rauch auf. Könnte man die zerstörten Aktenmeter aneinander reihen, so sagte Riedlmayer zur Verdeutlichung, ergäben sie eine Strecke von 511 Kilometern. Tausende kostbarer Codices in arabischer, persischer, osmanisch-türkischer, hebräischer und bosnischer Schrift sind für immer verloren. Wer später, wie es Riedlmayer mit engagierten Kollegen unternimmt, Bestände rekonstruieren oder ersetzen will, der kann, so der Forscher, nur mehr einen „Schatten aus der Asche auferstehen lassen“.

Zu den großen und aktuellen Themen dieses Kongresses gehörte neben dem rapiden Wandel moderner Speichertechniken die zentrale Funktion der Archive bei der Bildung von Gruppenidentitäten – insbesondere der Staats- und Nationalarchive, in denen gelagert wird, was die „nationale Identität“ repräsentiert. In Deutschland reicht das vom Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar bis zum Bundesarchiv in Koblenz. Welches Material, das ist die entscheidende Frage, wird überhaupt aufbewahrt? Welche Dokumente bekommen die so genannte „Archivreife“ oder „Archivwürdigkeit“ zuerkannt? Wer entscheidet darüber und in wessen Namen? Und wer erhält Zugang?

Von vitalem Interesse wird das „Archivgut“ auch da, wo nach einem Regimewechsel zur Demokratie vergangenes Unrecht vor Gericht kommen soll, wie nach den beiden deutschen Diktaturen, dem Nationalsozialismus und der DDR-Zeit. Ohne die Akten der DDR würde die „Gauck-“ und „Birthler-Behörde“ im Dunkeln tappen, wie Hartmut Weber vom Bundesarchiv darlegte. Beim Kollaps der DDR hatten Beamte noch versucht, Akten zu vernichten, doch, so Weber: „Zum Glück waren die Reißwölfe bald überfordert.“ Inzwischen setzt man auch die Schnipsel wieder zusammen.

„Das Archivgut der NS-Zeit war nach 1949 zersplittert“, schildert Weber die damalige Lage. Bis heute kauft Deutschland weltweit Unterlagen zur Nazi-Diktatur auf und ficht um die Rückgabe von Archivmaterial, etwa aus Russland. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden weitere Archive zur NS-Zeit, dann konnten die Zeugen sprechen, deren Leid und Leben die Archivare des Terrors zu Ziffern reduzieren wollten. In der Shoah Foundation findet sich ein Archiv mit weit über 50 000 Videobändern mit den Berichten Überlebender, die mit Hilfe der Yale University der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Rar sind die Staaten, die nicht mit Nachbarn und früheren Feinden um Archivbestände streiten. Mühsam klaubt sich Polen, das immer wieder geteilt, erobert und verschoben wurde, sein Staatsarchiv in Warschau zusammen, wie die Direktorin Daria Nalecz schilderte. Russland hofft noch immer auf Akten, die seit dem 18. Jahrhundert in Schweden lagern, Kroatien wartet seit 1932 auf Dokumente, die sich im Besitz von Österreichs Haus-, Hof- und Staatsarchiv finden.

Auf „verschleppte Archive“ hat sich die Amerikanerin Patricia Kennedy Grimsted spezialisiert, die plastisch von ganzen Lastwagenkonvois und Güterzügen voller Akten berichtete, welche nach 1945 gen Moskau rollten. Verluste durch Plünderungen und Raub, Fälschen, Löschen, Verbergen und Verschlampen gehören zum Los von Archiven überall auf der Welt.

Außerdem: der natürliche Verfall des Materials, gegen den die Archivare von der Nordhalbkugel bis in die Tropen ankämpfen. „Die Datenflut wächst schneller, als wir speichern können“, klagte nicht nur ein südpazifischer Bibliothekar. „Wir archivieren gerade mal drei bis fünf Prozent des Gesamtmaterials“, erklärt etwa der Leiter des Potsdamer Universitätsarchivs, Ralf Müller.

Dabei erweist sich das Digitalisieren von Daten keineswegs als der magische Weg zu Ewigkeit. „CD-Roms können sogar schimmeln. Die halten 20, maximal 30 Jahre, eine Microfiche-Datei bis zu 100 oder 300 Jahre lang“, erzählt Müller. Mittlerweile gibt es Versuche, per Laserstrahl Keilschrift auf Kristalle einzubrennen. „Das wäre wohl am haltbarsten“, sagt Müller, amüsiert darüber, dass wir angesichts der Dateninflation auf dem Umweg über High Technology womöglich wieder am Ursprung der Schrift anlangen, um dem „virtuellen Nirwana“, so der Potsdamer Experte, zu entgehen.

Kelebogile Kgabi, die elegante und lebhafte Direktorin des Nationalarchivs von Botswana, bedauert das mangelnde Verständnis weltweit wie in ihrem Land gegenüber der Aufgabe von Archivaren. „Wir heben doch die Vergangenheit für die Zukunft auf“, sagt sie. „Alle kommen zu uns, Parlamentarier, die Reden vorbereiten, Ärzte, die Spezialwissen suchen, jeder.“ Der Zorn Gottes möge sie treffen, die Vernichter von Archiven, Wissen, Bibliotheken, hoffte András Riedlmayer am Abschluss seines Vortrags. Er sagte das ohne Pathos. Gleichwohl mit Passion.

Informationen im Internet: www.wien2004.ica.org

www.ica.org

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