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Gesundheit: Das Gewicht der Geisterteilchen

Neutrinos durchdringen das Universum – und uns. Nun wollen deutsche Forscher sie erstmals wiegen

Zu den großen Rätseln der Physik zählen Neutrinos. Die Geisterteilchen flitzen in unvorstellbarer Zahl kreuz und quer durchs All; jede Sekunde rasen mehrere Tausend Milliarden von ihnen durch unseren Körper hindurch, ohne dass wir das Geringste spüren. Sie lassen sich auf ihrem Weg so gut wie nicht aufhalten: Planeten, Sterne, ganze Galaxien durchdringen sie, als wären diese nicht vorhanden.

„Neutrinos sind die zweithäufigsten Teilchen im Universum, jeder Kubikzentimeter im Kosmos enthält etwa 330 von ihnen“, sagt Guido Drexlin, Astroteilchenphysiker an der Universität Karlsruhe und am Forschungszentrum Karlsruhe.

Dort bauen Wissenschaftler seit kurzem ein Experiment auf, das eines der größten Geheimnisse des Neutrinos enthüllen soll: seine Masse. Denn obgleich Physiker sich schon Jahrzehnte die Köpfe darüber zerbrechen, ist ihnen noch immer unbekannt, wie schwer die exotischen Winzlinge sind. „Immerhin wissen wir jetzt, dass sie überhaupt etwas wiegen“, sagt Wolfgang Hampel vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg. „Neutrinos wechseln zwischen verschiedenen Zuständen und das geht nur, wenn mindestens einer dieser Zustände eine von null verschiedene Masse besitzt.“ Diese, so viel ist auch klar, muss sehr klein sein - viel kleiner als beispielsweise die Masse eines Elektrons.

Wozu ist es wichtig, den Neutrinos nachzuspüren? Sie kommen im Weltall sehr zahlreich vor. Es könnte sein, dass sie, zusammengenommen, eine sehr große Masse aufbringen und folglich eine große Schwerkraft ausüben. Dann würden sie auch die Entwicklung des Universums stark beeinflussen. Je präziser die Masse der Neutrinos bekannt ist, desto genauer weiß man, welchen Weg das Universum früher nahm und was mit ihm in Zukunft passiert. Dehnt es sich immer weiter aus, und wenn ja, wie schnell? Stürzt es irgendwann in sich zusammen?

Aber auch die Teilchenphysiker interessieren sich für Neutrinos. Sie wollen das Rätsel lösen, wie bei den allerkleinsten Teilchen Masse erzeugt wird. „Die Theorie der Elementarteilchen ist nicht komplett, solange wir die Masse des Neutrinos nicht kennen“, sagt Hampel.

Das Experiment in Karlsruhe heißt „Katrin“ (von KArlsruhe TRItium Neutrino Experiment) und ist weltweit das größte seiner Art: 33 Millionen Euro Kosten, drei Jahre Bauzeit. Am Ende wird eine siebzig Meter lange Halle entstanden sein, voll gestopft mit Messtechnik. Das Prinzip, um die Neutrinomasse zu bestimmen, ist im Grunde genommen einfach: „Wir ermitteln dazu die Energien von Elektronen“, sagt Drexlin, der den Versuch leitet.

Wie geht das? Dass es Neutrinos geben muss, auf diesen Gedanken kam der Physiker Wolfgang Pauli schon im Jahr 1930. Pauli hatte den Beta-Zerfall untersucht, einen radioaktiven Zerfall in Atomkernen, bei dem sich ein Neutron in ein Proton und ein Elektron aufspaltet. Dabei wird eine bestimmte Energie frei, die – so glaubte man ursprünglich – vollständig auf das Elektron übergeht.

Pauli versuchte die überraschende Beobachtung zu erklären, dass die Energie des Elektrons nie der Zerfallsenergie entspricht, sondern stets darunter liegt. Wo bleibt der Rest? Pauli vermutete, dass beim Beta-Zerfall neben Proton und Elektron noch ein drittes Teilchen entstehen müsse, das die übrige Energie mit sich trägt – eben das Neutrino.

„Pauli hatte Recht, und wie er weiter richtig vermutete, kann man das Neutrino kaum nachweisen, denn Neutrinos treten mit Materie fast nicht in Wechselwirkung“, sagt Drexlin. Wenn man ein Messgerät hinhält, nützt das nichts: Die Neutrinos fliegen einfach hindurch. Ihre Fähigkeit, Materie zu durchdringen, verdanken sie der Tatsache, dass sie keine elektrische Ladung besitzen. Deshalb sind sie elektrischen und magnetischen Feldern gegenüber immun.

Mit anderen Teilchen können sie nur über die schwache Kernkraft reagieren. Dazu müssen sie den Teilchen extrem nahe kommen: bis auf den Zehntausendstel Durchmesser eines Protons. Das passiert sehr selten.

Deshalb wollen die Karlsruher Forscher den exotischen Teilchen indirekt auf die Schliche kommen. Sie machen sich zunutze, dass Neutrinos, wenn sie eine Masse aufweisen, auch eine Minimalenergie (die Ruheenergie) besitzen müssen – weniger als diese Energie können sie nicht haben.

Bei jedem Beta-Zerfall trägt das entstehende Neutrino wenigstens seine Ruheenergie mit sich fort. Was bedeutet das für das Elektron? Dessen Energie kann unterschiedliche Beträge annehmen, liegt aber stets unterhalb der gesamten Zerfallsenergie – mindestens um den Betrag der Ruheenergie des Neutrinos. Wenn man sehr viele Beta-Zerfälle beobachtet und die Energien der entstehenden Elektronen misst, ergeben diese ein Spektrum, das sich von null bis fast zum Betrag der Zerfallsenergie erstreckt – aber nur fast: Am oberen Ende fehlt der winzige Betrag der Neutrino-Ruheenergie.

Genau diese Messung haben die Karlsruher vor. „Ich rechne damit, dass wir mit ,Katrin’ drei Jahre lang Daten sammeln müssen, dann haben wir ein hinreichend genaues Elektronenspektrum, um die Ruheenergie des Neutrinos zu ermitteln“, erklärt Drexlin. Und wenn die erst bekannt ist, haben die Forscher auch die Neutrinomasse. Beide, Ruheenergie und Masse, sind miteinander verknüpft: Kennen die Wissenschaftler das eine, dann kennen sie auch das andere.

Vereinfacht läuft „Katrin“ so ab: Die Forscher bringen Tritium in die Messapparatur, eine schwere Form von Wasserstoff, die dem Beta-Zerfall unterliegt. Ein Teil der Tritium-Moleküle zerfällt in der Apparatur. Die dabei entstehenden Elektronen werden mit enorm starken Magnetfeldern, erzeugt durch supraleitende Spulen, zum Hauptmessgerät geführt, ein 24 Meter langes Spektrometer. Dieses ermittelt die Energie der Elektronen auf ein Hundertstel Prozent genau (siehe Grafik).

„Karlsruhe ist optimal für dieses anspruchsvolle Experiment“, sagt Johannes Blümer, Kernphysiker am Forschungszentrum Karlsruhe. Nur hier gäbe es alle fachlichen Voraussetzungen: das Tritiumlabor Karlsruhe, Erfahrungen mit Supraleitern, die Technik für den Betrieb solcher Großanlagen, die nötige Expertise in Neutrinophysik. Kein Wunder, dass sich neben deutschen auch amerikanische, englische, russische oder tschechische Forscher beteiligen. Noch ist offen, was „Katrin“ über die Masse der Geisterteilchen herausfinden wird. Es könnte sein, dass das Experiment eine kleine Revolution in der Physik anstößt.

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