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Gesundheit: Das injizierte Virus

Amerikanische Forscher vermuten: Verseuchte Spritzen sind Ursache der raschen Ausbreitung von Aids in Afrika

Kein anderer Kontinent ist von Aids ähnlich schwer betroffen wie Afrika. Rund 30 Millionen Menschen sind derzeit mit HIV infiziert und noch einmal drei Millionen werden voraussichtlich in diesem Jahr hinzukommen. Für die weiter ansteigenden Krankheitszahlen machen Experten vor allem das Versagen der Safer-Sex-Kampagne verantwortlich. Vielleicht beruhen die Maßnahmen aber auch auf einer falschen These. Der Annahme nämlich, dass in Afrika die Übertragung von HIV im Wesentlichen durch Sex zwischen Mann und Frau erfolgt.

Bislang ging man davon aus, dass die Übertragung von HIV in Afrika zu 80 bis 90 Prozent durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr und nur zu ein bis zwei Prozent durch verunreinigte Transfusionen und ähnlich häufig durch inkorrekte Injektionen verursacht wird. Die Weltgesundheitsbehörde WHO nannte 2002 die erstaunliche Zahl von 99 Prozent heterosexueller Übertragung.

Das bislang Undenkbare gedacht, untersucht und in einer anerkannten Fachzeitschrift publiziert hat gerade eine Gruppe amerikanischer und französischer Epidemiologen. Ihre provokante These: Nicht heterosexueller Geschlechtsverkehr ist für den Großteil der Neuinfektionen mit HIV in Afrika verantwortlich, sondern ein schludriges Gesundheitswesen.

Seit langem ist klar, dass die Übertragung des Virus auf dem Schwarzen Kontinent einem anderen Modus folgt, als in der westlichen Welt. In den USA konnte in den Anfangsjahren der Aids-Epidemie nur ein Prozent der Neuerkrankungen durch heterosexuellen Verkehr erklärt werden. Auf 14 Aids-kranke Männer kam gerade mal eine HIV-positive Frau.

Untersuchungen in Afrika zeigten dagegen eine nahezu identische Häufigkeit bei beiden Geschlechtern. Dies führte zu dem Schluss, heterosexueller Kontakt zusammen mit einer hohen Promiskuität seien für mindestens 90 Prozent der HIV-Erkrankungen in Afrika südlich der Sahara verantwortlich. Entsprechend zielten alle Vorbeugemaßnahmen vor allem in Richtung „safer sex“.

Wie der amerikanische Forscher David Gisselquist und seine Kollegen jedoch überzeugend darlegen, gibt es in den afrikanischen Aids-Statistiken seit langem „Anomalien“, die das Dogma des sexuellen Übertragungsweges auf wackligem Fundament stehen lassen. Demnach lassen sich derzeit in Afrika nur 25 bis 29 Prozent der Neuinfektionen bei Frauen und 30 bis 35 Prozent bei Männer durch heterosexuellen Sex erklären. Homosexualität spielt in Afrika für die Übertragung von HIV keine Rolle.

In Simbabwe beispielsweise stieg in den 90er Jahren die Zahl der HIV-Infektionen jährlich um zwölf Prozent, während im gleichen Zeitraum die Häufigkeit typischer Geschlechtskrankheiten wie Syphilis und Gonorrhöe um ein Viertel zurückging. Gleichzeitig war auch die Benutzung von Kondomen sprunghaft angestiegen. Wenn Kondome die traditionellen Geschlechtskrankheiten verhüteten – was sie in Simbabwe offensichtlich taten – und nahezu ausschließlich heterosexueller Verkehr für Aids verantwortlich sein soll, warum nahm dann die Zahl der HIV-Infektionen konstant zu?

Dutzende von Untersuchungen offenbarten noch andere Ungereimtheiten. So entsprachen die typischen Risikofaktoren für eine heterosexuelle Übertragung des Erregers – häufiger Partnerwechsel, Besuch von Prostituierten oder Nichtgebrauch von Kondomen – nicht der Häufigkeit von HIV-Infektionen in den untersuchten Bevölkerungen. Unerklärlich ist bisher auch die hohe Zahl HIV-infizierter Kinder, deren Mütter nicht Träger des Aids-Virus sind.

Und was soll man von wissenschaftlichen Veröffentlichungen halten, die belegen, dass HIV-Infektionen in den Ländern besonders rasch zunehmen, in denen die medizinische Versorgung verhältnismäßig gut ist wie beispielsweise in Südafrika oder Botswana? Wogegen in Angola und dem Kongo – Länder mit schlechter medizinischer Infrastruktur – die Aids-Epidemie insbesondere auf dem Land deutlich langsamer voranschritt.

Die frappierende Antwort auf die vielen statistischen Ungereimtheiten lautet: Die heterosexuelle Übertragung von HIV ist in Afrika nur eine der Ursachen des Problems. Viel gewichtiger ist, dass HIV regelmäßig durch verunreinigte Spritzen und Kanülen, also durch nicht korrekt durchgeführte Injektionen, übertragen wird. Die Wissenschaftler nennen sogar eine präzise Zahl: bis zu zwei Drittel aller HIV-Infektionen seien Folge medizinischer Schlamperei.

Damit stellt sich auch die „Schuldfrage“ aus einer völlig neuen Perspektive. Die meisten afrikanischen Aids-Patienten wären dann nicht Opfer „unzeitgemäßen“ sexuellen Verhaltens, sondern Geschädigte einer Gesundheitsversorgung, in der strikte Hygieneprinzipien vernachlässigt werden. Träfe das zu, dann wäre die Aids-Epidemie in Afrika die größte denkbare durch die Medizin selbst verursachte Katastrophe.

Dass gefährliche Injektionspraktiken in Afrika gang und gäbe sind, ist schon länger bekannt. Experten schätzen, dass je nach Land und Art der Gesundheitsversorgung zwischen 20 und 90 Prozent der benutzten Kanülen, Spritzen oder Venenkatheter unter hygienischen Gesichtspunkten zumindest als fragwürdig eingestuft werden müssen. Nach Modellrechnungen gehen jedes Jahr mehrere Millionen Fälle von Hepatitis B und Hepatitis C auf das Konto unsachgemäßer Injektionen.

Nach einem eilig einberufenen Treffen von Aids-Experten im März ließ die WHO verlauten, dass HIV natürlich auch durch inkorrekt durchgeführte Injektionen übertragen werden könne. Während in Genf bisher für Afrika eine Rate von zweieinhalb Prozent für diesen Übertragungsweg genannt wurde, stieg die Quote am Ende der Konferenz überraschenderweise auf das Doppelte.

Ernst zu nehmen sind allerdings die Argumente, die andere Wissenschaftler gegen Gisselquist und seine Kollegen vorbringen. So zeigte kürzlich eine Gruppe von Biostatistikern der Universität Oxford, dass inadäquate Injektionen die Aids-Zuwachsraten in Afrika alleine auch nicht erklären können.

Die Forscher verglichen am Beispiel Südafrika über einen Zeitraum von zehn Jahren die Häufigkeit von Aids und von Hepatitis-C-Virus-Trägern in der Bevölkerung. Da beide Erreger durch kontaminierte Nadeln und Spritzen übertragen werden können, müssten die Häufigkeitskurven im Vergleichszeitraum ähnlich verlaufen. Tatsache ist aber, dass die Zahl der HIV-Träger zwischen 1990 und 1999 von rund zwei Prozent auf 25 Prozent hochschnellte, während die Durchseuchung mit dem Gelbsuchtvirus im gesamten Zeitraum zwischen einem und drei Prozent konstant blieb.

Was immer die exakten Zahlen sein mögen, sicher ist, dass heterosexueller Verkehr und inakzeptable medizinische Praktiken die Aids-Epidemie in Afrika angefacht haben und vermutlich auch aufrecht erhalten. Zu Beklagen ist allerdings, dass epidemiologische Untersuchungen, mit denen die jeweiligen Risikofaktoren für verschiedene Länder und Bevölkerungsgruppen quantifiziert werden könnten, bis heute fehlen. Zu medizinischen laissez faire gesellt sich im Fall Afrika also eindeutige wissenschaftliche Ignoranz.

Herrmann Feldmeier

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