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Gesundheit: Das Leben der Boheme

Zum Tod des Germanisten Helmut Kreuzer

In den Fünfzigerjahren war Stuttgart ein lebendiges intellektuelles Zentrum der ansonsten eher betulichen Bundesrepublik. Hier wirkte Max Bense, der Philosophie und Informationstheorie zusammendachte. Der Psychotherapeut Ottomar Domnick realisierte in Stuttgart seinen Spielfilm Jonas (1957), der neuartige, verstörende Bilder fand. Von diesem Klima des Austausches und der Grenzüberschreitung wurde der 1927 in Feldstetten (Württemberg) geborene Helmut Kreuzer geprägt. 1956 promovierte er in Tübingen mit einer Arbeit über Hebbel, 1965 wurde er an der TU Stuttgart mit der bahnbrechenden Studie „Die Boheme“ habilitiert. Kreuzer enthüllt die antibürgerlichen Lebensformen der Boheme als Ursprung der literarischen Moderne. Rasch wurde er zum Exponenten einer Germanistik, die ihre Methoden überdachte und Anschluss an Nachbardisziplinen suchte.

Etwa gleichzeitig mit Umberto Eco stritt Kreuzer dafür, „E- und U-Kultur“ nicht voneinander zu trennen, sondern als ein Feld fließender Übergänge zu betrachten. In dem Band „Mathematik und Dichtung“ versammelte Kreuzer 1965 Positionen, die für eine Synthese von naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Fragen plädierten. 1971 gründete Kreuzer „Lili. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik“, die sich rasch zu einem internationalen Diskussionsforum entwickelte. Früh hatte er erkannt, dass die Literaturwissenschaft die audiovisuellen Ausdrucksformen von Rundfunk, Film und Fernsehen nicht länger ignorieren konnte, dass sie Verfahren entwickeln musste, um einem erweiterten Literaturbegriff gerecht zu werden.

So wurde Helmut Kreuzer auf vielen Feldern zu einem Pionier einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Germanistik: 1967 Ordinarius in Saarbrücken, 1970 Nachfolger von Benno von Wiese in Bonn. Als er 1972 an die neu gegründete Gesamthochschule Siegen und damit in die Provinz wechselte, reagierten viele Fachkollegen mit Kopfschütteln. Doch Helmut Kreuzer wollte in einer Hochschule neuen Typs an die Stuttgarter Anfänge anknüpfen. Seiner Energie ist es zu verdanken, dass Siegen in den 1980er-Jahren zu einem Zentrum der literaturwissenschaftlichen Medienforschung wurde. Groß ist die Zahl seiner Schüler, die er mit Liberalität und freundschaftlichem Engagement förderte. Bis zuletzt war er publizistisch aktiv, brachte Sammelbände zum Hörspiel und zur Lyrik der 20er-Jahre heraus. Vieles ist aus Arbeitszusammenhängen mit seiner Frau Ingrid entstanden, die auch als Autorin hervorgetreten ist. 76-jährig ist Helmut Kreuzer jetzt in Siegen gestorben.

Der Autor ist Professor für Medienwissenschaft in Marburg und langjähriger Mitarbeiter Helmut Kreuzers.

Karl Prümm

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