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Gesundheit: Das sehende Auge liegt auf der Zunge

Nach dem Bericht der Bibel gab Jesus dem blinden Bartimaios auf dem Weg nach Jerusalem das verlorene Augenlicht zurück. Bei der größten technischen Annäherung an dieses Wunder machen sich Wissenschaftler jetzt die erstaunliche Austauschbarkeit unserer Sinneskanäle zunutze.

Nach dem Bericht der Bibel gab Jesus dem blinden Bartimaios auf dem Weg nach Jerusalem das verlorene Augenlicht zurück. Bei der größten technischen Annäherung an dieses Wunder machen sich Wissenschaftler jetzt die erstaunliche Austauschbarkeit unserer Sinneskanäle zunutze. Sie wandeln optische Wahrnehmungen in ein taktiles "Fühlbild" um, das Blinde mit ihrer Zunge erfassen können.

Zwar wird weltweit daran gearbeitet, Menschen, die das Augenlicht verloren haben, mit Hilfe von Neuroprothesen einen Teil der Sehkraft zurückzugeben. Ob das viel beschworene Retina-Implantat diese Aufgabe erfüllen wird, ist jedoch zur Zeit noch ungewiss, weil diese Methode erhebliche technische und medizinische Schwierigkeiten aufwirft.

Doch amerikanische Forscher haben jetzt erste Erfahrungen mit einer alternativen Technik gesammelt, bei der Sehreize quasi "durch die Hintertür" in die zentrale Verarbeitungsstelle gelangen. Die Erfahrung des Sehens wird nicht durch das Auge, sondern durch das Gehirn verwirklicht. Wie alle anderen Sinnesorgane verarbeitet auch die Netzhaut nur externe Reize zu Nervenimpulsen. Erst das Gehirn setzt diese "Morsezeichen" in eine bewusste Empfindung um. Die Frage war, ob man einen Ersatz für den verlorenen Datenstrom auf Seitenwegen in das Nervensystem Blinder schleusen kann.

Dass eine solche "sensorische Substitution" prinzipiell möglich ist, hat eine Forschergruppe um den Rehabilitationsmediziner Paul Bach-y-Rita von der University of Wisconsin bereits Ende der 60er Jahre nachgewiesen. Von einer Kamera aufgezeichnete Bildsignale wurden damals an eine Vorrichtung am Bauch oder am Rücken von Blinden gesendet. Diese war mit einer Vielzahl winziger Stifte bespickt. Das Gerät setzte den optischen Eindruck in Vibrationen der Stifte oder direkt in elektrische Impulse um.

Nach einer Trainingsphase nahmen die blinden Probanden die einfachen Stimulationsmuster auf der Haut als räumliche Eindrücke wahr. Das "Fühlbild" wurde subjektiv in den Raum, und nicht auf die Oberfläche der Haut verlegt. Die Probanden mussten dabei stets aktive Kontrolle über die Kamera haben, so dass eine systematische Beziehung zwischen der Eigenposition und den Objekten bestand. Mit diesem Verfahren konnten die Blinden in begrenztem Umfang Umrisse, Objekte, Bewegungen, Perspektive und Raumtiefe erkennen.

Doch die grobe Versuchsanordnung war aus verschiedenen Gründen nicht praxistauglich. Die Vibratoren waren zu massig, laut und energiehungrig. Bei der Anwendung von Stromstößen traten häufig ungewollte Schockeffekte auf. Erst die Miniaturisierung der Elektronik in den 90er Jahren brachte eine Wende. Mit einem Male bot sich nun die Zunge als optimaler Applikationsort für das Fühlbild an. Die Zunge ist ungewöhnlich dicht mit Tastrezeptoren besiedelt, was eine höhere Auflösung verspricht. Der stets vorhandene Speichelfilm gewährt eine optimale Leitfähigkeit. So sind nur drei Prozent der an der Hautoberfläche erforderlichen Spannung nötig.

Das "Ersatzauge" Zunge liegt zudem gut geschützt im Mundinnenraum und ist breitbandig mit dem Gehirn vernetzt. Das Team um Bach-y-Rita hat einen Sensor realisiert, auf dem sich 144 Elektroden mit einem Durchmesser von etwa zwei Millimeter befinden, die in einem briefmarkengroßen Quadrat von zwölf mal zwölf Millimetern angeordnet sind. Die Bilder einer Videokamera werden in elektrische Impulse übersetzt, die sich auf der Zunge wie Kribbeln anfühlen.

Nach einer Trainingsphase machten sich Blinde mit dieser Technik ein "Sehvermögen" zu eigen, das immerhin dem schattenhaften Sehen in ein einer dunklen Umgebung entsprach. Mit der Zeit lernten sie sogar, durch ein virtuelles Labyrinth zu navigieren. Sie konnten bald Gesichter und einfache grafische Objekte erkennen.

Ob diese Wahrnehmungsleistungen tatsächlich die subjektive Qualität des Sehens besitzen, bleibt vorerst ungeklärt. Noch weiß niemand, ob der visuelle Kortex, die Verarbeitungsstelle für Sehreize, die substituierten Sehimpulse entschlüsselt. Das Abtasten der Blindenschrift Braille geht bei Blinden tatsächlich mit Aktivität im visuellen Kortex einher.

Für Bach-y-Rita sind diese Ergebnisse ein eindrucksvoller Beweis dafür, dass unser Gehirn ein beträchtliches Potenzial zur Plastizität besitzt. Offenbar sind die Sinneszentren nicht starr auf ihren Kanal festgelegt, sondern haben eine starke Tendenz, alle Impulsmuster zu entschlüsseln, derer sie habhaft werden können. Dabei können sie offenbar auch artfremde Codes verstehen. Nach Darstellung des Forschers gibt es Hinweise, dass in jedem unserer Sinneszentren ständig auch latente Daten aus fremden Sinneskanälen einlaufen.

Die Anwendbarkeit des Verfahrens wird noch durch sein geringes Auflösungsvermögen und den relativ niedrigen Kontrast begrenzt. Doch schon in naher Zukunft sollen optimierte Nachfolgemodelle mit höherer Auflösung folgen. Auch ein Deutscher, der Physiker Winfried Schimmelpfennig, hat 1999 ein US-Patent für ein Gerät zur Erzeugung von Zungenbildern erhalten.

Bereits jetzt zeichnen sich vielfältige neuartige Anwendungen ab. Das Militär arbeitet an einem System, das Soldaten mit Sonar oder Infrarot Zungenbilder einer fürs Auge unsichtbaren Umgebung vermittelt. Auch Rennfahrer, die blitzschnell Informationen über das sich verändernde Blickfeld benötigen, könnten von dem Prinzip profitieren. Das taktile Zungensehen operiert mit einer geringeren Verzögerung als das Augenlicht.

Ein Befund weist erkenntnistheoretische Implikationen auf. Tendenziell konnten Blinde Objekte zwar abstrakt erkennen, aber diese Seheindrücke ließen oft die greifbare emotionale Qualität vermissen. Ihnen fehlte in gewisser Weise das, was Philosophen "Qualia" nennen, betont Bach-y-Rita: Das Konterfei der Ehefrau weckte keine Zuneigung, die Betrachtung eines Striptease löste keine sexuelle Erregung aus.

Damit Sinneseindrücke zu Qualia werden, muss man möglicherweise von Kindheit an Erfahrungen mit ihnen machen. Bei Blinden, die durch eine Operation das nie gehabte Augenlicht erlangten, war eine ähnliche Distanz zu erkennen. Menschen, die eine Zweitsprache im Erwachsenenalter erlernen, lassen oft das Gespür für den emotionalen Gehalt von Gefühlsausdrücken und Flüchen vermissen. Doch es gab auch zündende Gegenbeispiele, die Bach-y-Rita hoffen lassen. So nahmen blinde Kinder das Zungenbild einer flackernden Flamme mit sichtbarer Verzückung wahr.

Rolf Degen

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