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Gesundheit: Der Analytiker der Gesellschaft

Horst Eberhard Richter zum 80. Geburtstag

Ein feingliedriger Mann mit weißhaarigem Gelehrtenkopf. Ein Psychoanalytiker, aber keiner, der – bei aller Zuwendung zum einzelnen Patienten – hinter der Couch still sitzen blieb. Horst Eberhard Richter mischt sich überall ein. Unbeirrbar meldet er sich öffentlich zu Wort, wie seinerzeit Rudolf Virchow, für den Politik „Medizin m Großen“ war. Er mahnt zu kritischem und selbstkritischem „Nachdenken vor dem Machen“ – auch in Medizin und Wissenschaft.

Mahner werden von den Machern gern „Bedenkenträger“ gescholten. Das ficht Richter nicht an. Er schreibt ein Buch nach dem anderen, debattiert und demonstriert immer noch. Heute feiert er seinen 80. Geburtstag, und zwar in Berlin. Hier wurde er am 28. April 1923 geboren, hier studierte er Medizin, Psychologie und Philosophie, machte den doppelten Doktor, arbeitete als Kliniker und als Leiter der „Beratungs- und Forschungsstelle für seelische Störungen im Kindesalter“. Zugleich absolvierte er eine Zusatzausbildung am Psychoanalytischen Institut, das er später – von 1959 bis 1962 – leitete.

Dann kam der Ruf nach Gießen, wo er ein Zentrum für Psychosomatische Medizin aufbaute, dessen innovative wissenschaftliche Leistungen weltweit anerkannt wurden. Der psychologische „Gießen-Test“ zum Beispiel wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt, und Richters Analysen der Interaktionen und Konflikte in Familien, Gruppen und Institutionen fanden internationale Resonanz. Bücher wie „Patient Familie“ oder „Eltern, Kind, Neurose“ wurden nicht nur in Fachkreisen beachtet.

Nach der Emeritierung 1991 leitete Richter noch ein Jahrzehnt lang das Frankfurter Sigmund-Freud-Institut und ging mit 79 Jahren in den Ruhestand. Die psychoanalytische Methodik nutzte er schon frühzeitig als Instrument der Aufklärung nicht nur individueller seelischer Zustände. Er fragte auch, was eigentlich hinter Fremdenfeindlichkeit oder Aggressivität steht.

Horst Eberhard Richter begnügte sich aber nie mit der Theorie. Er entwickelte eine psychoanalytisch fundierte Sozialtherapie, erprobte sie mit seinen Studenten auch an sozialen Brennpunkten und setzt diese Arbeit noch heute in einer Obdachlosensiedlung fort. Auch an der Psychiatriereform der Siebzigerjahre hat er maßgeblichen Anteil. Überdies wurde er zu einer Vaterfigur der 68er Studentenbewegung.

Natürlich erregte sein unorthodoxes Denken und Handeln oft Anstoß, nicht nur bei den konservativen Kollegen seiner Gießener Fakultät. Unvergessen die befremdeten Mienen der Ministerialbeamten, die sonst in sicherer Entfernung am Schreibtisch über sozialpolitische Fragen zu befinden hatten, als Richter sie während eines Workshops in ein Rollenspiel hineinzog, bei dem sie sich in Bittsteller auf dem Sozialamt einfühlen sollten.

Eigene Kriegserfahrungen und die atomare Bedrohung machten ihn 1982 zum Mitbegründer der deutschen Sektion der IPPNW, der „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“, die 1985 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. In seiner Anfang 2000 erschienenen Autobiographie „Wanderer zwischen den Fronten“ schreibt er, dass er sich dort vor allem der psychologischen Aufgabe widmet, „die Bedrohungs- durch eine Verständigungspolitik zu ersetzen“. Den 1991 erweiterten Namen der Vereinigung – „Ärzte in sozialer Verantwortung“ – erfüllten seine Ideen mit Leben. In Vorträgen und in Büchern wie „Der Gotteskomplex“ oder „Das Ende der Egomanie“ warnt er vor einer Perversion der ärztlichen Verantwortung durch eine Gesellschaft, die Schwäche und Leiden verleugnet und durch eine Omnipotenzhaltung überkompensiert.

Ihr Allmachtanspruch auf perfekte Leidfreiheit könne die Medizin (wie seinerzeit Hitlers rassistischer Reinheitswahn) erneut unter Druck setzen. Es droht, dass die Hilfe für Schwache und Leidende wie pflegebedürftige Alte und Behinderte weniger wichtig genommen wird als „die Hilfe für eine Gesellschaft, die indirekt in den Kranken eine beschwerliche, um jeden Preis zu verringernde Last sähe.“

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