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Gesundheit: Der Kuss der Kegelschnecke

Die hübsch gemusterten Meerestiere leben in tropischen Gewässern. Ihr Gift kann als Medikament dienen

Vielen Urlaubern, die aus den Ferien am Meer zurückkehren, sind die Schalen bunter Meeresschnecken beliebte Erinnerungsstücke an die schönsten Tage des Jahres. Im Barock gehörten diese Mollusken-Schalen zu den Schätzen der Naturalienkabinette, aus denen einst Naturkundemuseen wie das der Humboldt-Universität in Berlin hervorgingen. Die Tiere selbst jedoch, die in diesen Schalen leben, und ihre Biologie blieben vielfach bis heute unbekannt. Erst neuerdings haben Forscher herausgefunden, dass einige dieser Meerestiere – die Kegelschnecken aus der Familie Conidae – überaus wirksame Schmerzmittel für die Humanmedizin der Zukunft bieten.

Die bunt gefärbten und hübsch gemusterten Coniden leben in tropischen Meeren von Mallorca über die Malediven bis nach Malaysia. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts sind ihre farbenfrohen, wie aus Porzellan hergestellten Schalen sehr beliebt. Bei einer Auktion 1796 in Holland wurde beispielsweise das Bild „Briefleserin am offenen Fenster“ des holländischen Künstlers Jan Vermeer van Delft (1632-1675) für nur 43 Gulden ersteigert. Dagegen erzielte damals ein einziges Exemplar der tropischen Kegelschnecke Conus cedonulli damals 273 Gulden. Bis heute werden einige Conus-Schalen unter Liebhabern teuer gehandelt.

Die schönen Schalen täuschten lange darüber hinweg, wie giftig Kegelschnecken sind. Coniden sind gleichsam die Giftschlangen mariner Gefilde. Rund 500 Arten leben weltweit in den warmen Meeren. Ganz ähnlich wie Schlangen an Land setzen auch Kegelschnecken ihr Gift ein, um damit Beute zu fangen; im Unterschied zu vielen anderen Schnecken leben sie räuberisch. Etwa 50 Arten von ihnen sind ausgerechnet auf schnell bewegliche Fische spezialisiert. Die oft faustgroßen Kegelschnecken vermögen sogar agile Fische zu erlegen, die so groß sind wie die Schnecken selbst. Dazu legen sie zunächst einen Köder aus, dann harpunieren sie die Beute und lähmen sie mit einem höchst effektiven Nervengift, um sie in aller Ruhe zu verspeisen.

Kegelschnecken haben am Vorderende des Kopfes eine ausstülpbare, dünne Röhre, die sie wie ein sich windender Wurm hin und her schwenken. Dadurch werden ihre Beutefische angelockt. Wenn ein Fisch nahe genug kommt, schießen die räuberischen Schnecken aus dieser Röhre einen winzigen Giftpfeil mittels eines hydraulischen Systems ab. Dieser Chitinpfeil besitzt Widerhaken wie eine Harpune; er ist zudem hohl und wird vor dem Abschuß mit einem wirksamen Gift gefüllt. So wird das tödliche Schneckengift in das Gewebe des Fisches injiziert, um diesen zu lähmen und zu verhindern, dass er flieht.

Die Purpur-Kegelschnecke Conus purpurascens des Indowestpazifik etwa bedient sich dabei effektiver Mechanismen: so erleidet der harpunierte Fisch einen toxischen Schock, das Gift blockiert die Verbindung der Nerven zur Muskulatur und macht seine Flossen in Sekundenschnelle unbeweglich.

Seit längerem ist bekannt, dass das Coniden-Gift auch für den Menschen gefährlich werden kann. Zwar ist das Schneckengift während der Evolution entstanden, um damit Beute zu machen (dazu zählt der Mensch sicher nicht). Wenn sich Kegelschnecken indes in Gefahr wähnen, etwa beim Einsammeln durch Schalen-Liebhaber, können sie ihre Giftpfeile verschießen – keineswegs ohne Wirkung: Denn einige der Schnecken-Toxine, auch Conotoxine genannt, ähneln den Giften der Kobra und anderer Schlangen.

Gerade Conotoxine könnten sich jedoch auch für den Menschen als sehr nützlich erweisen. Jüngste Forschungen haben gezeigt, dass sich aus ihrem Gift sehr wirksame Medikamente herstellen lassen. Denn die Schneckentoxine blockieren bei Wirbeltieren – vom Fisch bis zum Fischverkäufer – die biochemische Kommunikation der Nervenbahnen.

Conus purpurascens beispielsweise besitzt wenigstens drei paralysierende Toxine, die in die neuromuskuläre Reizleitung eingreifen. Dabei können Substanzen, wie etwa die Acetylcholin-Rezeptoren an den Knotenpunkten der Reizleitung, den Synapsen, blockiert werden. Oder es wird die Informationsweiterleitung über die Kalziumkanäle unterbrochen, wie Forscher um Baldomero Olivera, Universität von Utah in Salt Lake City, herausfanden.

Olivera, der bereits als Kind in seiner philippinischen Heimat von den Kegelschnecken fasziniert war, hatte als erster erkannt, dass jede der zahlreichen Conus-Arten vor allem des Indowestpazifik eine spezifische Zusammensetzung einzelner Komponenten der Conotoxine besitzt. Das Gift der Kegelschnecken ist ein Cocktail aus 50 bis 150 verschiedenen aus Aminosäuren aufgebauten Komponenten. Jede dieser als Peptid bezeichneten Komponenten wirkt etwas anders auf das Zusammenspiel von Nerven und Muskeln bei Wirbeltieren. Denn die Peptide der Conotoxine binden spezifisch an Rezeptoren und Ionenkanäle, die in den Nervenbahnen gleichsam für die Datenübertragung verantwortlich sind.

Das eröffnet unterschiedliche Strategien: Zum einen läßt sich mit den aus den Schnecken gewonnenen Peptiden erforschen, wie ausgewählte Bindungsstellen im komplexen neurophysiologischen Zusammenspiel funktionieren. Diese binden nämlich gezielt an den Oberflächenstrukturen der Nervenzellen und werden dort wirksam. Die Peptide sind mithin ebenso spezifische Werkzeuge der biochemischen Forschung wie ein Sortiment Schraubenschlüssel unterschiedlicher Größe für einen Handwerker.

Zum anderen könnten die Giftmischer unter den tropischen Schnecken gleich ein ganzes Arsenal medizinisch wirksamer Stoffe liefern. Während Schnecken der gleichen Biospezies aber aus verschiedenen geographischen Regionen stets die gleichen Peptide aufweisen, haben selbst Peptide mit ähnlicher Funktion bei unterschiedlichen Conus-Arten auch einen einen ganz anderen Molekülaufbau.

Mit der Erforschung der Conotoxine stehen die Pharmakologen zwar erst am Anfang. Immerhin deuten bisherige Befunde aber an, dass einige der Schneckengifte als überaus wirksame Schmerzmittel dort eingesetzt werden können, wo etwa Morphium versagt. Die Weltgesundsheitsorganisation in Genf schätzt, dass täglich etwa drei Millionen Krebspatienten unerträgliche Schmerzen erleiden, ohne dass ihnen noch mit Morphin geholfen werden könnte.

Conotoxine unterbinden beim Menschen die Weiterleitung der Schmerzsignale über das Rückenmark ins Gehirn. Auch Schlaganfallpatienten lassen sich mit dem Gift der Kegelschnecken therapieren, denn es unterbindet auch nachträglich noch die für das Hirngewebe schädlichen Prozesse und mindert damit die Folgen einer Durchblutungsstörung.

Besonders interessant erscheint dabei das Omega-Conotoxin, das aus dem Gift verschiedener Kegelschnecken isoliert werden konnte. Ein Peptid aus der Kegelschnecke Conus magus mit der Bezeichnung SNX-111 blockiert die Natriumkanäle der Nerven und damit auch die Weiterleitung von Schmerzimpulsen.

Ein nach dem natürlichen Vorbild synthetisch hergestelltes Peptid wurde in ersten klinischen Tests von der in Kalifornien ansäßigen Neurex Corporation erprobt. Bei 21 von 32 Testpatienten, die auf Opiate nicht mehr ansprachen, waren die Schmerzen nach der Injektion von SNX-111 vollständig verschwunden.

Als Nebenwirkung wurde lediglich im Einzelfall eine vorübergehende Sehstörung sowie Schwindel festgestellt. Vor allem aber wurden selbst Patienten, die das synthetische Conopeptid über neun Monate verabreicht bekamen, anders als bei Morphium nicht davon abhängig.

Davon ermutigt liefen an 50 amerikanischen Krankenhäusern weitere klinische Tests zur Wirksamkeit und Sicherheit des Schneckenwirkstoffes SNX-111 an, bei denen jeweils 200 Aids- und Krebspatienten sowie Schlaganfallpatienten beteiligt waren.

Anfang des Jahres wurde die kleine Schnecke Conus magus dann zum großen Star: ihr Gift ist nun der erste Wirkstoff aus dem Meer, der es bis zum Medikament geschafft hat. Unter dem Namen Prialt ist der synthetische Nachbau neuerdings auf dem Markt.

Matthias Glaubrecht

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