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Gesundheit: Der Kuß der Muse

Ratlos stand er vor dem Bücherregal in der Bibliothek.Das größte Problem war, er konnte sich nicht entscheiden.

Ratlos stand er vor dem Bücherregal in der Bibliothek.Das größte Problem war, er konnte sich nicht entscheiden.Jedenfalls hatte er noch immer kein Thema für seine Magisterarbeit gefunden.Es sollte etwas Ausgefallenes sein.Er suchte die Buchreihen ab, als zufällig auf der anderen Seite des Regals ein Augenpaar in derselben Höhe auftauchte, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog.Wache, klare, dunkle Frauenaugen.Auch in ihrem Blick spürte er ein Zögern.Sie schauten sich an, als bestünden sie aus nichts anderem als je einem Augenpaar.Ihre Augen glitten an den Buchreihen weiter, seine folgten ihnen - Versteckspiel für Erwachsene.Aber ihre Augen wirkten so jung.Vielleicht verbarg sich keine Frau auf der anderen Seite, sondern ein Kind.Mit Sicherheit aber war sie schön, bezaubernd, himmlisch.Er fühlte das.Neugierig stellte er das Geschichtsbuch, das er gerade in der Hand hielt, wieder zurück.Wie sollte ihn jetzt die Vergangenheit interessieren! Er folgte einem viel größeren Rätsel, einer viel bedeutenderen Forschung.Die Spur seines Gefühls hatte ihn bisher selten gelockt, aber in diesem Moment ...

Da wandte sie sich ab.Wie konnte sie nur! Er sah nur noch kurz ein Feld braunen Haares aufblitzen.Dann verschwand sie ganz.Die Bücherregale waren sehr lang.Schnell ging auch er in die Richtung, in die sie gegangen war.Immer wieder sah er ihr Haar durch den schmalen Spalt zwischen Büchern und Regal auftauchen und wieder verschwinden.Warum lief sie so schnell? Es war schwer, ihr unauffällig zu folgen.

Unerwartet waren sie beide an das Ende des Regals angelangt.Ein kleiner Schritt hätte ausgereicht, um ganz nah voreinander zu stehen.Doch statt weiterzugehen blieb sie stehen.Was sollte er jetzt tun? Er bremste abrupt, griff sich gedankenlos ein Buch aus dem Regal und las eifrig die Buchstaben, ohne einen Sinn zu erfassen.Die Spannung dieses Moments schien den Saal zum Kochen zu bringen.Ungewollt fing er an zu schwitzen.

Auf einmal zog sie ein dickes Buch aus ihrem Regal, und er tat nach einem kurzen Zögern dasselbe auf seiner Seite.Nun konnte er ihren Mund sehen und ihr Gesicht und - er war entsetzt.Dieses Geschöpf war nicht seine Traumfrau.Sie hatte nicht das erwartete feengleiche feine Gesicht, das ihre Augen versprochen hatten.Nein, er blickte in ein altes, verbrauchtes Gesicht, dessen Gesichtszüge von einem harten Leben, von zuviel Arbeit und zuviel Rauchen zeugten.Sie war schlichtweg verlebt.Was für ein Ende für einen so schönen Flirt!, dachte er resigniert, aber er wollte sich keine Blöße geben, und so lächelte er sie an.Auch sie lächelte, aber ihr Mund war noch bitterer als das verlebte Gesicht.Die Zähne standen schief an Orten, wo sie nicht hingehörten, und waren zudem nicht weiß, sondern bräunlich gelb.Vor Schreck erstarrte sein Lächeln zu Eis und drohte bei der nächsten Bewegung zu zerbrechen.Deshalb blieb er regungslos, stocksteif und starrte sie mit großen Augen an.

Noch ehe er wieder zu sich finden konnte, vernahm er eine süßliche lockende Stimme: "Ich bin deine Muse.Du mußt mich küssen", sprach sie.

"Spinnst du", entfuhr es ihm reflexartig, und ärgerlich dachte er: Was für eine Anmaßung! Diese Frau war nicht nur häßlich, nein, auch noch überheblich.Sie schien sich einzubilden, ihn reinlegen zu können.Nichts hielt ihn mehr bei diesem albernen Spiel.Schnell stellte er das Buch wieder in das Regal.Wie konnte das ihm passieren, so ein Fehlschlag! Er hoffte nur, daß ihn niemand beobachtet hatte und daß er sich unauffällig würde davonstehlen können.

Als er sich gerade aus dem Staub machen wollte, bog sie um die Ecke in seinen Gang.Da stand sie vor ihm, noch immer lächelnd, und sein einziger Gedanke hieß Flucht.Leider konnte er nie aufbrausend sein, blieb auch jetzt nach außen hin höflich und sagte: "Es tut mir leid, ich bin noch verabredet und muß jetzt gehen."

"Du darfst erst gehen, wenn du mich geküßt hast", antwortete sie herausfordernd.

Langsam verlor er über die Dreistigkeit dieser Frau seine Geduld.Wutschnaubend baute er sich vor ihr auf und fauchte ihr ins Gesicht, daß er sich auf keinen Fall herablassen würde, so ein jämmerliches Geschöpf wie sie zu küssen.Entschieden wandte er sich ab und lief, ohne sich noch einmal umzudrehen, in Richtung Ausgang.

Er hatte noch nicht die Treppen erreicht, die nach unten führten, da griff eine Hand nach seiner Schulter, um ihn festzuhalten.Ruckartig drehte er sich um, bereit handgreiflich zu werden, würde sie jetzt nicht von ihm weichen.Tatsächlich stand sie da.Klein, mager-krank."Eine Verrückte!", schoß es ihm durch den Kopf.Er legte seine Arme auf ihre Schultern, sah ihr tief ins Gesicht und wiederholte betont langsam "Ich werde dich nicht küssen.Ich gehe jetzt nach Hause.Verstanden?"

Sie federte leicht nach, als er die Arme wieder von ihr hob, spitzte dann ihren Mund und flüsterte: "Kuß!"

"Ach, laß mich doch", wehrte er mit einer entnervten Handbewegung ab.Doch als er den Fuß auf die erste Stufe setzen wollte, warf sie sich ihm an den Hals; er geriet dadurch ins Wanken, versuchte sich noch einmal am Geländer festzuhalten, stolperte aber unglücklich und fiel mit ihr gemeinsam die Treppe hinunter.Beide lagen sie am unteren Treppenabsatz, von den harten Aufschlägen verbeult.Verliebt schaute sie ihn an, als wären sie gerade nicht die Treppen hinunter, sondern in den siebten Himmel gefallen.Er gab es auf, fügte sich seinem unglücklichen Schicksal und schloß die Augen in der stillen Hoffnung, die Begegnung wäre nur ein idiotischer Traum gewesen.

Da fühlte er, wie ihn plötzlich zarte Lippen auf den Mund küßten.Er öffnete die Augen.Sie lehnte über ihm.Es erschreckte ihn nicht einmal mehr; sein Abwehrsystem schien bei dem Sturz zu Bruch gegangen zu sein.Sie hob ein wenig den Kopf und raunte ihm zu: "Wie könnte eine Muse schön sein bei all den Lasten, die sie sich aufbürdet, bei all den durchwachten Nächten an der Seite der Kreativen! Immer wieder muß ich den Verzweifelten Kraft geben und neuen Antrieb.Meinst du, das geht spurlos an mir vorüber?" Dann erhob sie sich plötzlich und verschwand.Kaum hatte er sie aus den Augen verloren, wußte er sein Thema für die Magisterarbeit: "Die Geschichte des isländischen Elfenmythos."

Diese Geschichte wurde bei dem Campus-Kurzgeschichtenwettbewerb mit einem Buchpreis ausgezeichnet

MAREBA C.LANDER

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