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Gesundheit: Der Wert der Vielfalt

Auf einzelnen Pflanzen lässt sich ein Weltimperium errichten – auf dem Stammbaum des Lebens könnten die Früchte des Wissens reifen

Von Marion Kerstholt

Nicht einmal anderthalb Jahre dauerte es, bis das Projekt Erde scheiterte. In der Wüste von Arizona hatten Forscher 16 Monate lang versucht, den Lebensraum unseres Planeten nachzustellen. Auf nur etwas mehr als einem Hektar lebten acht Wissenschaftler in einem Glashaus in fünf Landschaften mit 3800 Tier- und Pflanzenarten zusammen. Doch acht Monate vor dem geplanten Ende musste das Projekt abgebrochen werden, um die Forscher vor Gesundheitsschäden zu bewahren.

In der Atmosphäre der Miniatur-Erde war der Sauerstoffanteil in der Luft von 21 auf 14 Prozent gefallen, ganze Tiergruppen waren ausgestorben und wenige aggressive Arten wie Algen und Heuschrecken, hatten sich zu einer Plage entwickelt. „Das Beispiel des Projekts Biosphäre II zeigt, dass wir das Ökosystem der Erde bisher nur bruchstückweise verstehen“, sagt Jens Mutke, Botaniker an der Universität Bonn.

Die Erde lebt von ihrer Biodiversität: Der biologischen Vielfalt von Tier- und Pflanzenarten, von Genen und von Ökosystemen, die ineinandergreifen. Die Zahl der verschiedenen Arten in der Natur ist enorm. Wissenschaftler schätzen die Gesamtzahl auf etwa 35 Millionen. 320000 Pflanzenarten sollen auf der Welt existieren (siehe Grafik), aber nur 270000 sind bisher bekannt.

Allerdings verteilt sich das Artenspektrum sehr ungleich über die Erde. Die „Hot-Spots“ liegen meist in den tropischen Regionen, etwa in den Regenwäldern. Auf einem Hektar Regenwaldfläche im Osten Ecuadors wurden 470 verschiedene Baumarten gefunden. Das ist Rekord. Es handelt sich um acht Mal mehr Arten, als in ganz Deutschland vorkommen. Zudem ist ein Großteil der Arten an den „Hot-Spots“ endemisch: Sie leben also nur an diesem eng begrenzten Ort und nirgendwo sonst auf der Erde.

Die Kapregion Südafrikas, wo in diesen Tagen der Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung stattfindet, ist bekannt für ihre Artendichte. Dort leben 8600 Arten höherer Pflanzen, wie die prächtige Protea oder der Affenbrotbaum, von denen zwei Drittel endemisch sind. Das macht deutlich, warum besonders die Natur dieser Regionen geschützt werden muss.

Beim Artenschutz versucht die internationale Gemeinschaft, unterschiedliche Wege einzuschlagen. Auf der einen Seite gilt es, die natürlichen Lebensräume, wo es möglich ist, zu erhalten. Denn niemand weiß, ob die verschiedenen Ökosysteme in ihrer Gesamtheit sich jemals wieder von einer Störung erholen würden.

Eine ausgestorbene Art ist unwiederbringlich verloren und mit ihr auch ihre einzigartige Funktion in der Lebensgemeinschaft. Mit jeder Art, die von unserem Planeten verschwindet, geht auch eine Ressource an Wissen verloren. Der Organismus kann nicht mehr erforscht werden, wir können nichts mehr von ihm lernen.

Samenbanken sollen Reste retten

In Einzelfällen kann da ein anderer Zweig des Artenschutzes helfen. In botanischen und zoologischen Gärten, in Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtungen werden große Samenbanken und Genbibliotheken der bekannten Arten angelegt. So wurde der ausgestorbene Toromiro-Baum, der nur auf der Osterinsel zu finden war, in einem botanischen Garten entdeckt und konnte wieder in seinem ursprünglichen Lebensraum angesiedelt werden. Doch dieses Glück haben die Naturschützer nicht oft: Wenn eine unbekannte Art ausstirbt, kann niemand sie in einer der existierenden Sammlungen finden.

Der Nutzen, den die Menschen aus der Biodiversität der Erde ziehen können, ist vielfältig und nahezu unerschöpflich. „Die Artenvielfalt bildet die komplette Lebensgrundlage der Menschheit“, sagt Jens Mutke. „Wir essen und trinken Biodiversität.“ Besonders häufig wird das Wissen über Pflanzen und Tiere von der Pharmaindustrie genutzt. Der Bayer-Konzern baute sein Imperium zu einem Großteil auf der Grundlage von Weidenrinde auf. Sie enthält Salicylsäure, die in leicht abgewandelter Form den Wirkstoff in Aspirin bildet.

Blutegel wurden schon im Mittelalter zum Aderlass verwendet. Doch in der modernen Medizin erleben sie eine Renaissance. Wenn ein Blutegel auf die Haut eines Patienten gesetzt wird, raspelt er eine geeignete Stelle auf, um an seine Nahrungsquelle zu gelangen. Die Blutgerinnung, die normalerweise eine Wunde schnellstens verschließt, verhindert der Egel mit einer Substanz in seinem Speichel: dem Hirudin. So kann der Blutegel mehr trinken. Die Substanz wird heutzutage zur Behandlung von Venenthrombosen oder Hämorrhoiden eingesetzt.

In der Bionik versuchen Wissenschaftler, biologische Erkenntnisse auf technische Funktionen zu übertragen. Forschern von der Universität Bonn fiel auf, dass die Blätter der Lotosblume immer sauber sind. Sie entdeckten, dass Wasser von diesen Schwimmpflanzen sehr gut abperlt.

Elektronenmikroskopische Untersuchungen erklärten das Phänomen: Die Oberfläche der Lotosblätter ist mit mikroskopisch kleinen Wachskristallen bedeckt. Schmutzpartikel kommen dadurch gar nicht mit dem Blatt selbst, sondern nur mit der Spitze der Kristalle in Berührung. Der Schmutz kann sich gar nicht erst festsetzen. Beim nächsten Regenschauer ist alles wieder sauber. Dieses Prinzip verwendet man heute für selbstreinigende Fassadenfarbe oder schmutzabweisende Dachziegel.

Die Inspirationen durch die Natur sind zahlreich: Ob aerodynamische Tragflächen für Flugzeuge nach dem Vorbild von Haihaut, indigoblauer Farbstoff aus dem einheimischen Färberwaid oder Penicillin aus einem Schimmelpilz. All diese Anwendungen sollten den Artenschutz zu einer Selbstverständlichkeit werden lassen, über die nicht auf politischen Konferenzen verhandelt werden muss.

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