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Gesundheit: Der Wille zum Bösen

Von Tom Heithoff Mit nüchterner Distanz nähert man sich dem Bösen vielleicht am besten. Wenn der Historiker Yaacov Lozowick, Archivdirektor der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem in Jerusalem, die Bürokratie im NS-System untersucht, schiebt er alles, was an Gefühlen der Erschütterung, der Empörung, des Entsetzens da sein könnte, beiseite.

Von Tom Heithoff

Mit nüchterner Distanz nähert man sich dem Bösen vielleicht am besten. Wenn der Historiker Yaacov Lozowick, Archivdirektor der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem in Jerusalem, die Bürokratie im NS-System untersucht, schiebt er alles, was an Gefühlen der Erschütterung, der Empörung, des Entsetzens da sein könnte, beiseite. Er will die Mechanismen der Täter freilegen. Er will sehen, wie das Täter-Getriebe funktioniert und in welchen Handlungsetappen die Judenvernichtung vorbereitet wurde. „Meine Hauptfrage lautet dabei: Wie kann man zum Täter werden?", sagte Lozowick am Montag im Martin-Gropius-Bau, wo er auf Einladung der Stiftung Topographie des Terrors über „Eichmann und seine Bürokraten - Zur Banalität und Flexibilität des Bösen" sprach.

Lozowick glaubt nicht an die „Banalität des Bösen", die Hannah Arendt in ihrem 1963 erschienenen Buch „Eichmann in Jerusalem" beschrieb und die zu einem zentralen Begriff in der Forschung über NS-Täter geworden ist. Arendt war unter dem Eindruck von Eichmanns Aussagen in seinem Kriegsverbrecherprozess zu dem Schluss gekommen, dass der Vollstrecker der Judenvernichtung, und seine Erfüllungsgehilfen nur unscheinbare Bürokraten waren, die vom Zeitgeist getrieben und ohne recht um die moralische Dimension ihres Tuns zu wissen, die Befehle der Vorgesetzten diensteifrig ausgeführt haben. Lozowick widerspricht dem vehement. „Eichmann und seine Komplizen wussten jederzeit genau, was sie taten." Ihre Grausamkeit sei „nicht normal und nicht banal, sie ist nicht allein zu erklären durch die Umstände eines schrecklichen Krieges".

Die Judenvernichtung wäre nicht durchzuführen gewesen, sagt Lozowick, wenn Eichmanns Bürokraten nicht eine übereinstimmende, fanatische Ideologie geeint hätte. Sie waren alle „gute Nazis", hatten nach der Machtergreifung Hitlers in der Nazi-Partei Karriere gemacht und ihre antisemitische Haltung mehrfach bewiesen. Wer beim Treffen von „Experten in jüdischen Angelegenheiten" am 1. November 1937 in Berlin dabei war, sei überzeugter Judenhasser gewesen, „sonst hätte man ihn schon längst aus der SS geworfen".

In der „Phase des Lernens" habe man Informationen über die Juden gesammelt, indem man Bücher von und über sie sowie jüdische Zeitungen las und jüdische Versammlungen besuchte. „Man wollte verstehen, wie die Juden wirklich sind, um sie wirkungsvoll bekämpfen zu können."

In diesem Stadium, das bis etwa 1938 dauerte, hätten Eichmanns Beamte wahrscheinlich „mehr gelesen als die meisten Deutschen". So „gebildet" trat man in die „Phase des Lehrens" über, in der dieses „Wissen" über die Gefährlichkeit der Juden weitergegeben werden sollte. „Die Lehrer sind nicht nur selber Antisemiten gewesen, sondern haben andere gelehrt, noch bessere Antisemiten zu werden."

Das Lügen perfektioniert

Da viele Juden in ein nicht-jüdisches Umfeld von geschäftlichen Kontakten eingebunden waren, seien weitere, neue Strategien nötig gewesen. „Um diese Umgebungen nicht zu schädigen, musste man die (auch finanziellen) Konsequenzen von Deportationen und Enteignungen bedenken, also lernen, in wirtschaftlichen Begriffen zu denken." Je weiter der Krieg voranschritt und je zurückhaltender einstige Verbündete oder Kollaborateure wurden, desto wichtiger wurde die „Fähigkeit zu verhandeln und zu lügen." Die Vernichtungspolitik in Frankreich konnte nur mühsam gegen den wachsenden Widerstand der Franzosen durchgeführt werden. In Italien versuchten lokale Instanzen die deutschen Absichten zu blockieren. Als eine Niederlage Deutschlands immer wahrscheinlicher wurde, wurde es auch zunehmend schwieriger, sich gegenüber den unterworfenen Völkern und den mit den Deutschen zwangsverbundenen Satelliten durchzusetzen. „Dennoch führte Eichmanns Abteilung bis fast zum bitteren Ende die Vernichtung der Juden fort." Noch 1944 habe er es geschafft, im niederländischen Apeldoorn, jüdische Freiwillige zu finden, die eine Gruppe von geistig Kranken während der Zugfahrt „in eine jüdische Anstalt nach Polen" beaufsichtigen und anschließend „sofort zurückkehren" sollten. „25 von 50 Betreuern haben sich gemeldet!" Die Fähigkeit, so überzeugend zu lügen, sei „nicht angeboren, sie ist perfekt ausgebildet worden".

Wie kann man zum Täter werden? Auf seine Hauptfrage weiß Lozowick bis heute „keine Antwort, obwohl ich seit Jahren suche". Aber dass ein „Wille zum Bösen, der ganz und gar nicht banal" ist, hinter den Grausamkeiten steht, hält Lozowick für unstrittig. „Eichmanns Bürokraten waren Deportationsspezialisten, die wussten und wollten, was sie taten." Mit Initiative und Erfindungsreichtum hätten sie weitaus mehr Unrecht getan, als von ihnen verlangt worden war. Von der Banalität des Bösen zu sprechen, gehe daher völlig an der Realität vorbei. „Es war die Flexibilität des Bösen, mit der zigtausend Entscheidungen getroffen wurden." Man wird nicht einfach ein Massenmörder, sagt Lozowick. Im Gegenteil: „Massenmörder zu sein, ist nicht einfach."

Von Yaacov Lozowick erschien 2000: „Hitlers Bürokraten. Eichmann, seine willigen Vollstrecker und die Banalität des Bösen“; aus dem Englischen von Christoph Münz; Pendo Verlag, Zürich/München

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