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Gesundheit: Deutsch-Polnische Perspektiven: Ein Leuchtturm am Ufer der Oder

Studenten haben Vortritt. Wenn die Schlange an der Oderbrücke, die Frankfurt/Oder mit Slubice verbindet, mal wieder zu lang ist, dann dürfen die Studenten sich an den Wartenden mit den Einkaufstaschen vorbeidrücken und landen, flott, flott, mit beinahe ungebremsten Schritten im Nachbarland.

Studenten haben Vortritt. Wenn die Schlange an der Oderbrücke, die Frankfurt/Oder mit Slubice verbindet, mal wieder zu lang ist, dann dürfen die Studenten sich an den Wartenden mit den Einkaufstaschen vorbeidrücken und landen, flott, flott, mit beinahe ungebremsten Schritten im Nachbarland. Man darf das ruhig als Symbol sehen: In der Wissenschaft wächst die Grenzregion schneller zusammen als in anderen Bereichen. Das ist besonders deutlich, seitdem das Collegium Polonicum fertiggestellt ist. Gestern wurde es mit der Konferenz "Polen als Mitglied der Europäischen Union" feierlich eingeweiht (siehe nebenstehenden Artikel).

Überquert man die Oderbrücke nach Einbruch der Dunkelheit, dann leuchten einem die Lichter der Bibliothek einladend entgegen - "wie ein Leuchtturm", sagt die Leiterin der Bibliothek, Grazyna Twardak. Slubice hat ein neues, moderneres Gesicht, nun da der Neubau des Poznaner Architekten Tomasz Durniewicz direkt am Ortseingang die Besucher begrüßt. Rund 800 Studenten, überwiegend Polen und rund ein Viertel Deutsche, lernen in dem lichtdurchfluteten Bau mit der silberglänzenden Fassade, dessen Gebäudeteile um einen Innenhof angeordnet sind.

Das Collegium Polonicum, das in gemieteten Räumen bereits 1993 den Lehrbetrieb aufnahm, ist ein einzigartiges Unternehmen: als Gemeinschaftseinrichtung der Europa Universität Viadrina Frankfurt/Oder und der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan soll es zur kulturellen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen beitragen. Das Hauptgebäude wurde schon 1998 eröffnet, Bibliothek und Auditorium maximum sind seit vergangenem Herbst in Betrieb (vgl. Tagesspiegel vom 23. Oktober 2000).

"Unsere Bibliothek ist sicher die modernste in Polen", sagt Krzystof Wojciechowski, Verwaltungsdirektor des Collegium Polonicum. 65 Computerarbeitsplätze hat sie, und die 30 000 Titel, die jetzt schon vorhanden sind, sind "erst der Anfang"; Platz ist für eine halbe Million Bände. Zettelkataloge gibt es hier ebenso wenig wie an der benachbarten Viadrina: Alles ist computerisiert, beide Bibliotheken haben einen gemeinsamen Online-Katalog, so dass man auch in Slubice jederzeit weiß, welche Bücher an der Viadrina vorhanden oder gerade ausgeliehen sind. Die Bibliothek des Collegium Polonicum hat den Nachlass von Karl Dedecius erhalten, dessen Arbeit als Übersetzer und Kulturvermittler zwischen Deutschland und Polen sie eine Ausstellung widmet. Die deutsch-polnischen Beziehungen sollen auch einen Schwerpunkt für die künftigen Sammlungen bilden.

Sieben Studiengänge haben die beiden Universitäten im Collegium Polonicum eröffnet, fünfzehn sollen es noch werden. So sind zum Beispiel die Masterstudiengänge "Vergleichende Mitteleuropastudien" und "Schutz europäischer Kulturgüter" im Angebot, ein berufsbegleitendes Master of Business-Programm "Management and Marketing for Central and Eastern Europe" sowie Studiengänge in Politologie, Umweltschutz, Stadtentwicklungsmanagement und polnischem Recht. Finanziert wird das Collegium Polonicum aus deutschen, polnischen und europäischen Quellen.

Die Europa-Universität Viadrina, die in diesem Sommer ihr zehnjähriges Jubiläum feiert, ist von Beginn an auf die Zusammenarbeit mit Polen ausgerichtet gewesen. Ein Drittel der insgesamt 3800 Studenten an den drei Fakultäten Rechts-, Wirtschafts- und Kulturwissenschaft sind Polen. Sie müssen in einer Aufnahmeprüfung ihre Deutschkenntnisse unter Beweis stellen und erhalten kleine Stipendien - zur Zeit 250 Mark - aus dem Brandenburger Landeshaushalt. Das Interesse der jungen Polen an der deutschen Sprache und an einem Studium in Frankfurt/Oder oder am Collegium Polonicum ist groß; umgekehrt ist das weniger der Fall, nur 120 deutsche Studierende lernen derzeit Polnisch am Sprachlernzentrum der Viadrina. "Aber mit der Zeit wächst das Interesse für Osteuropa, wenn man hier studiert", berichtet Kulturwissenschafts-Studentin Michaela Grün vom AStA. "Und am Ende ist es ganz egal, ob man gerade mit einem Polen oder einem Deutschen redet."

Kontakte entstehen auch über das gemeinsame Wohnen in Studentenwohnheimen, von denen in Slubice mehrere neu erbaut wurden. "1992 gab es nur einen einzigen deutschen Studenten, der in einem Wohnheim in Slubice wohnen wollte", erinnert sich Wojciechowski. "Heute leben 60 dort, und die Kandidaten stehen Schlange."

Solche Fortschritte sind wichtig in einer Region, in der viel vom "Brückenschlagen" die Rede ist und in der die Universität zum Hoffnungsträger geworden ist. Gesine Schwan, seit Oktober 1999 Präsidentin der Viadrina, wünscht sich, dass ihre Universität noch stärker in Stadt und Region hineinwirkt: mit öffentlichen Veranstaltungen, Dienstleistungen und mit Angeboten, sich kritisch mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Die ehemalige Berliner Politik-Professorin mit dem gewinnenden Lachen, 1999 Bewerberin um die FU-Präsidentschaft, spricht polnisch und hat mit einer Arbeit über den polnischen Philosophen Leszek Kolakowski promoviert. Sie genießt es sichtlich, ganz praktisch zur deutsch-polnischen Verständigung beizutragen, und spricht von einer "Aufbruchstimmung" an ihrer Universität: "Vergleichen Sie das mal zum Beispiel mit München! Da ist alles so reich, so fertig, so schön, aber deswegen auch viel langweiliger als hier."

Es gibt eben noch viel zu tun, nicht nur für Wissenschaftler: In der Region ist jeder fünfte arbeitslos, und es geht die Sorge um, mit der Osterweiterung der Europäischen Union könnte der Druck auf den Arbeitsmarkt weiter zunehmen. Eine Sorge übrigens, die Außenminister Fischer für unbegründet hält, da sie sich bei der Aufnahme von Spanien oder Griechenland in die EU auch nicht bewahrheitet habe. Fischer stellte sich am Montag abend bei einem Bürgerforum der "Märkischen Oderzeitung" den Fragen der Frankfurter und prophezeite: "In zwanzig Jahren wird es hier genauso sein wie an unserem anderen Grenzfluss, dem Rhein, mit engsten Verbindungen zwischen Städten, Kommunen, Schulen." Für die Studenten der Viadrina klang das nicht nur wie Zukunftsmusik: Sie organisieren bereits heute Lesungen aus polnischer Literatur und Sommerfeste mit polnischen Bands.

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