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Gesundheit: Deutsche Geschichte: "Gebiet gesäubert"

Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion jährt sich am 22. Juni zum 60.

Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion jährt sich am 22. Juni zum 60. Mal. Je länger der Überfall zurückliegt, desto genauer werden seine Begleitumstände beschrieben. Historiker haben erst seit kurzem einen unverstellten Blick auf das Besatzungsregime der Wehrmacht, auf die innersowjetischen Verhältnisse und vor allem in die russischen Archive. Das Ausmaß des Terrors, mit dem das deutsche Regime die europäischen Teile der Sowjetunion überzog, lässt sich heute in Opferzahlen messen, in Befehlsketten nachvollziehen, in Tätergruppen differenzieren.

Ausgebeutet bis zum Letzten

Zum Beispiel für das Leningrader Gebiet vom Sommer 1941 bis zum Sommer 1944. Von den 1,3 Millionen Einwohnern lebten nach dem Abzug der Wehrmacht in den Dörfern und Städten des Gebiets rund um die Blockade-Stadt noch 442 000 Menschen, sagte Gerhart Hass, Mitautor und Herausgeber des DDR-Grundlagenwerkes "Deutschland im Zweiten Weltkrieg", jetzt bei einer Historiker-Tagung im Deutsch-Russischen Museum Karlshorst.

450 000 waren noch vor der Besetzung hinter den Kaukasus umgesiedelt worden. Rund 100 000 Menschen schickten die Besatzer zur Arbeit nach Deutschland. Wie viele von ihnen zurückkehrten, ist nicht geklärt. Eine Opferzahl gelte jedoch als gesichert, so Gerhart Hass: 172 000 Männer, Frauen und Kinder seien im Leningrader Gebiet von den Besatzern dem Hungertod überlassen, erschossen, erhängt, lebendig verbrannt worden. Die Russen sprechen einschließlich der getöteten Soldaten von 900 000 Opfern.

Schon im Mai 1941 standen die Richtlinien für das Besatzungsregime: Ein Interesse an der Erhaltung der Wirtschaftskraft sei nicht vorhanden, einziges Ziel sei die Versorgung der Truppen bis zum Sieg spätestens im Winter 1941 gewesen. Die Bevölkerung werde einer großen Hungersnot entgegensehen. Der "Ostfeldzug" dauerte aber viel länger und so war die Militärverwaltung auf die Mitarbeit der Bevölkerung angewiesen. Bei einem Treffen im Frühjahr 1942 einigten sich Beamte des Ostministeriums, Wehrmachtsgeneräle und Mitarbeiter des Wirtschaftsamtes Ost auf ein Vorgehen zur "Ersparung deutschen Blutes und Verhinderung von Bandenbildung". Die Russen sollten glauben, "dass sie bei uns ein besseres Leben als bei Stalin haben". Im Leningrader Gebiet wurden zwischen 1942 und 1943 Schulen wieder eröffnet, russische Lehrer angestellt, es erschienen Zeitungen, es gab Kino und Theater. Zur Waldarbeit verpflichtete Männer und Frauen bekamen Gummischuhe und höhere Lebensmittelrationen. Die Bereitschaft der Einheimischen, in der Landwirtschaft, bei der Instandhaltung von Straßen und im Eisenbahnbau für die Deutschen zu arbeiten, sei gewachsen. "Kollaboration ergab sich zwangsläufig aus dem Kriegsverlauf", so Hass.

Ein weiteres Unthema der Sowjetzeit, die Denunziation von Partisanen, kann heute erforscht werden. Aus zeitgenössischen Akten des Inlandsgeheimdienstes NKWD gehe hervor, dass der Partisanenkampf vor allem durch Zuträger aus den Reihen der im stalinistischen System Verfolgten und der ehemaligen "Kulacken" stark behindert wurde. Der deutsche Kampf gegen die Partisanen wirkte sich andererseits auch negativ auf die Beziehungen zwischen den Besatzern und der Bevölkerung aus. In den ersten Monaten der Besetzung, sagte Joachim Klein, Berliner Historiker und beteiligt an der Neukonzeption der Wehrmachtsausstellung, habe die Mehrheit der Zivilbevölkerung "monatelang keine feindselige Einstellung" gezeigt. In Berichten der örtlichen Kommandanturen wurden Sowjetbürger als "deutschfreundlich bis abwartend-ängstlich" beschrieben. Weil aber die "deutsche Partisanenphobie" an der Zivilbevölkerung abreagiert wurde, sei es schnell zu einem Stimmungsumschwung gekommen. Einerseits war die Wehrmacht auf Hinweise der Dörfler angewiesen, andererseits wurden sie haftbar gemacht, wenn der Verdacht bestand, dass sie Partisanen unterstützten. Ortsfremde Zivilisten und durchziehende Rotarmisten in Halbzivil waren verdächtig, auch wenn es keine Sabotageakte gab.

Die Zahl der sichergestellten Waffen sei meistens sehr gering gewesen. In einem Gebiet in Weißrussland verfolgten die Partisanenjagdkommandos in knapp zwei Monaten 234 gemeldete Verdachtsfälle. 1400 Menschen - größtenteils Zivilisten - wurden erschossen oder erhängt. "Gebiet gesäubert", wurde dann lapidar vermerkt.

General Max von Schenckendorff, Befehlshaber im rückwärtigen Heeresgebiet Mitte (Weißrussland), erließ im August 1942 einen Befehl, nach dem "Kollektiv- und Strafmaßnahmen nur auf Befehl eines Batallionskommandeurs" durchgeführt werden dürfen. Die Erschießung von Kindern und Frauen (außer Waffen tragenden) sei verboten. Bei Verstoß drohe das Kriegsgericht. Durch die Strafandrohung sei von Schenckendorffs Befehl bemerkenswert, sagte Klein. Das, seit dem Frühjahr 1942 gestartete, so genannte Bandenkampfunternehmen sei trotz gelegentlicher Aufrufe zur Milde ein Freibrief für die Feldgendarmerie gewesen, "straflos töten zu dürfen". Auch von Schenckendorffs Vorstoß blieb wirkungslos, so Klein. Hitler persönlich habe ihn für gegenstandslos erklärt.

Während die Wehrmacht die slawische Zivilbevölkerung also zeitweise schonte, um ihre Arbeitskraft ausbeuten zu können, hatten jüdische Bürger in den besetzten Gebieten keine Chance. Andrej Angrick, ebenfalls an der Überarbeitung der Wehrmachtsausstellung beteiligt, hat Befehle, Absprachen von Einsatzgruppen der SS und der Wehrmacht und Schriftwechsel zwischen Wehrmachts-Dienststellen ausgewertet. Sein Fazit: "Einzig das Schießen an den Gruben blieb Sache der Männer Himmlers." Die Wehrmacht habe in den besetzten Städten und Dörfern Einwohnerverzeichnisse angelegt, die Kennzeichnung von Juden und die Bildung des Judenrates angeordnet, Juden aus öffentlichen Ämtern entfernt und Kontributionen von Juden verlangt. Dies seien "erste Schritte zur Erfassung der Juden für den Massenmord" gewesen, sagte Angrick.

Dreckige Hände der Wehrmacht

Das Heer habe aber auch Gettos und Geiseldepots eingerichtet und die Einsatzgruppen gelegentlich sogar gedrängt, "die Juden so schnell wie möglich zu vernichten, weil die Versorgung der Wehrmacht gefährdet" sei. Im Dunkeln bleibe nur, inwieweit sich Offiziere auch an der "Aktion 1005" beteiligten. Bei dieser "geheimen Reichssache" wurden vor dem Abzug Massengräber ermordeter Juden geöffnet, um die Taten zu vertuschen.

Sechzig Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion kann Vieles beschrieben werden, was lange unaufklärbar erschien. Abwehr gegen neue Forschungsergebnisse gibt es auf beiden Seiten. Ein versöhnliches Projekt ist die Erschließung deutscher Karteien sowjetischer Kriegsgefangener. Große Teile wurden 1997 im Archiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation wiedergefunden. Jetzt wird die Offizierskartei mit 60 000 Einträgen erschlossen. Damit könnten Hinterbliebene ehemaliger Gefangener erfahren, wo in Deutschland ihre Väter und Großväter begraben sind, so Projektmitarbeiter Reinhard Otto. Auch über die Arbeitseinsätze jedes einzelnen Gefangenen wurde Buch geführt.

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