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Gesundheit: Deutschland einig Meckerland

Im Osten hat sich eine parallele politische Kultur etabliert. Aber man ist gemeinsam unzufrieden

„Wer in Leipzig, Stuttgart, Magdeburg oder Bremen den ICE verlässt und einen Spaziergang macht“, erklärt der Mannheimer Politikwissenschaftler Jan W. van Deth, „bemerkt kaum Unterschiede.“ Die Einkaufsstraßen sehen ähnlich aus, mit ähnlichen Geschäften, ähnlichen Blumenkübeln, ähnlichen Bettlern. Kaufhausketten und Discounter bieten überall die gleichen Produkte an. In all diesen Kommunen sinkt die Wahlbeteiligung, leben immer weniger Personen in konventionellen Familien und machen sich Sorgen über Kriminalität und Einwanderung, beobachtet van Deth (Deutschland in Europa. Ergebnisse des European Social Survey 2002-2003, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005). Das durchschnittliche Haushaltseinkommen der Ostdeutschen ist gestiegen, die Sozialausgaben und Investitionen pro Kopf sind so hoch wie im Westen. Ist nicht längst zusammengewachsen, was zusammengehört?

Schöner Schein. Die Arbeitslosigkeit im Osten ist mehr als doppelt so hoch, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf erreicht gerade 66 Prozent, die Arbeitsproduktivität 70 Prozent von der im Westen. Bilder von maroden Wirtschafts-Landschaften und schrumpfenden Städten in Ostdeutschland sind allgegenwärtig. Hier gingen auch zehn Prozent weniger als im Westen zur Bundestagswahl. Immer deutlicher stellt sich heraus, dass Ostalgie, PDS-Anhängerschaft und Areligiosität nicht einfach schwindende Überbleibsel der anderen deutschen Republik sind.

Man muss von zwei politischen Kulturen in Deutschland sprechen, ergab jetzt eine sozialwissenschaftliche Befragung von Sozialwissenschaftlern der Universitäten Stuttgart, Mannheim, Mainz und Köln. Die Erkenntnisse zu Deutschland basieren auf der europaweiten Umfrage „European Social Survey“, die heute in Berlin vorgestellt wird. Für die deutsche Teilstudie befragen die Sozialwissenschaftler in den Jahren 2002 und 2003 knapp 3000 Menschen in Ost- und Westdeutschland. Die Befragungen sollen europaweit im Zweijahresrhythmus wiederholt werden, um die Einstellungen, Überzeugungen und Verhaltensmuster der Bevölkerungen der jeweiligen Länder zu beschreiben und zu erklären.

Von einem allmählichen Verblassen der Sozialisation in der DDR und einer Annäherung der Landesteile ist auch lange nach der Vereinigung wenig oder nichts zu merken. „Trotz der guten Ausgangsbedingungen folgte auf die rasche Transformation des ostdeutschen Systems keine rasche Integration der beiden Teile Deutschlands“, sagt van Deth. Die eindeutige bundesrepublikanische Dominanz habe in den neuen Bundesländern Anlass gegeben, die Transformation des sozialen und politischen Systems als fremdbestimmt zu empfinden. Man begegne heute der Marktwirtschaft und dem demokratischen Rechtsstaat immer kritischer, und an die Stelle ursprünglicher Euphorie seien Enttäuschung und eine „Romantisierung der früheren Mangelwirtschaft des repressiven Regimes“ getreten.

Ostdeutsche sind generell mit ihrem Leben unzufriedener als Westdeutsche. Die Lücke im subjektiven Wohlbefinden hat sich „mit einer Differenz von 16 Prozentpunkten tendenziell eher vergrößert“, stellte die Stuttgarter Sozialwissenschaftlerin Katja Neller fest. Insgesamt zeigte sich eine eindeutige ost-westeuropäische Spaltung: Die allgemeine Lebenszufriedenheit der Ostdeutschen ist vergleichbar mit der in Polen, Slowenien oder der Tschechischen Republik. Neller, Geschäftsführerin der deutschen Teilstudien des European Social Survey, fand auch Details: In den neuen Bundesländern ist eine Vertrauensperson für die allgemeine Lebenszufriedenheit besonders wichtig ist, weniger dagegen das Zusammenleben mit einem Partner. Das niedrigere Haushaltseinkommen macht unzufriedener als im Westen, und man hat mehr Angst vor Kriminalität.

Für die Lebenszufriedenheit in Europa spielen Politik und politische Einstellungen eine Rolle. Dabei stieß Katja Neller auf etwas Überraschendes. Westdeutsche sind mit Wirtschaftslage, Bildungs- und Gesundheitssystem, Demokratie und Regierung ebenso unzufrieden wie Ostdeutsche und Osteuropäer. In der Unzufriedenheit mit Wirtschaft und Politik scheint die innere Einheit gelungen.

Zugleich sind ostdeutsche Bürger misstrauischer gegenüber Politikern, Parlamenten, Justiz und Polizei als ihre westlichen Landsleute, stellte die Politikwissenschaftlerin Sonja Zmerli fest. Dem Deutschen Bundestag begegneten ostdeutsche Bürger „mit erkennbarem Misstrauen“.

Gibt es eine „innere Mauer“ quer durch Ostdeutschland, wie der Kölner Soziologe Heiner Meulemann behauptet? Sie soll diejenigen, die an das Leistungsprinzip glauben, von denen trennen, die es ablehnen. Fest steht, dass das Leistungsprinzip im Osten viel stärker abgelehnt wird als im Westen – zugunsten einer „Ergebnisgleichheit“. Die ostdeutsche Bevölkerung ist in sich gespalten. „Sie ist zu einem Teil in der neuen Ordnung angekommen, zu einem anderen Teil der alten Ordnung verhaftet“, so Meulemann, „und Skepsis gegen das Leistungsprinzip gedeiht vor allem im ostalgischen Bevölkerungsteil.“

Diese Mauer gab es noch nicht zur Zeit der Vereinigung, sie entstand erst mit der Transformation. Viele Ostdeutsche verwarfen das Leistungsprinzip, als sie erfahren mussten, „dass Ressourcen nach Leistung nicht nur zugewiesen, sondern auch verweigert werden können.“ Im Interesse für Politik und in politischen und sozialen Aktivitäten sind sich Ost- und Westdeutsche jedoch einig – und sie sind darin europaweit Spitze.

Die Studie im Internet:

www.europeansocialsurvey.de

Peter Düweke

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