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Gesundheit: Die Angst vor dem Auftritt

Lampenfieber – nichts als Einbildung? Keineswegs, viele Musiker leiden so sehr darunter, dass ihre Karriere gefährdet ist. Mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen wollen Mediziner den Betroffenen helfen – in Berlin an einem eigenen Institut.

Ein paar Tenöre sucht sie noch, auch Bässe sind willkommen. Die Plätze für die Frauenstimmen sind allerdings alle schon besetzt, auch wer Aufnahme im Orchester finden will, muss erst mal auf die Warteliste. Es klingt ja auch zu schön: Im August nach Südfrankreich fahren, im Departement Drôme eine Woche Urlaub machen, mit Gleichgesinnten zusammen musizieren, am Ende an einem Konzert mitwirken, das in einer malerischen Kapellen-Ruine aus dem 12. Jahrhundert vor 150 Zuhörern gespielt wird! Bachs H-Moll-Messe soll es in diesem Jahr sein, im vorigen wurde Henry Purcells Oper „Dido und Aeneas“ aufgeführt. Déirdre Mahkorn denkt nämlich praktisch: Barockmusik hat den Vorteil, dass sie auch mit einem kleinen Kammerorchester gespielt werden kann. Und wo hat man jemals so gute Profis beieinander? Sie denkt jedoch vor allem therapeutisch: Der Workshop im sonnigen Süden soll den Musikern helfen, mit ihren berufsbedingten Ängsten klarzukommen.

Déirdre Mahkorn ist Psychiaterin, und Auftrittsangst von Musikern, das ist ihr großes medizinisches und wissenschaftliches Thema. 2010 hat die Oberärztin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Bonn eine „Lampenfieberambulanz“ für Berufsmusiker eröffnet. Inzwischen hat Mahkorn, die selbst singt und einen Dirigenten zum Mann hat, dort rund 330 Patienten behandelt. Und beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) wurde ihre Arbeit kürzlich mit einem der Anerkennungspreise für die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen ausgezeichnet.

Denn die Angst vor dem Auftritt ist ein Problem, über das Berufsmusiker und solche, die es werden wollen, nicht gern sprechen. Dabei kann sie so weit gehen, dass sie zu einer Krankheit wird, die dem Bereich der Angststörungen zugeordnet werden muss. Ein Leiden, das der Karriere ernsthaft im Wege steht und oft als zweites noch eine Depression nach sich zieht. „Aus Angst zu versagen verschieben viele Betroffene ihre Auftritte, sagen ab oder üben nicht.“ Psychotherapeuten sprechen hier von „Vermeidungsverhalten“. Oft gehe das Lampenfieber mit einer besonderen Persönlichkeitsstruktur einher, sagt Mahkorn: „Typischerweise sind unsere Patienten Perfektionisten, sie haben ein ganz preußisches Leistungsethos, neigen zum Schwarz-Weiß-Denken und verzeihen sich selbst keinen Fehler“. Auch die Angst können sie sich nicht verzeihen. Sie bleibt folglich ein Tabu. Zumal der Konkurrenzkampf vor allem im Bereich der klassischen Musik unerbittlich ist – nicht nur unter Solisten. „Viele Instrumentalisten, die zu uns kommen, fühlen sich von der Schließung ihrer Orchester bedroht“, berichtet Mahkorn. „Die Erkrankungen sind vom System gezüchtet“, kritisiert die Psychiaterin.

Das bestätigt der Berliner Allgemeinarzt und Psychoanalytiker Helmut Möller, der sich dem Thema seit zwei Jahrzehnten widmet. „Der Verdrängungswettbewerb hat zugenommen: Es bewerben sich 60 bis 70 Instrumentalisten für eine Stelle im Orchester, und nachdem jemand an die 40000 Stunden geübt hat, kommt es beim Vorspiel dann auf den einen Augenblick an!“ Ein einziger Patzer kann das Aus bedeuten. Und selbst die Teamplayer sind in diesem Moment ganz allein auf der Bühne. „Dort ist man der einsamste Mensch der Welt“, sagt Möller – der als ambitionierter Hobby-Cellist weiß, wovon er spricht.

Angst führt dazu, dass Musiker ihre Haltung verändern, sich verkrampfen, Probleme mit der Feinmotorik bekommen. Dass Streicher zittern, Blechbläser kieksen, Querflötisten ihren guten Ansatz und Sopranistinnen ihre höchsten Töne verlieren. Wer bereit ist, an einem Workshop teilzunehmen, hat schon etwas gegen das Tabu unternommen: Denn wenigstens vor den anderen Teilnehmern muss man sich hier outen. Die, die beim letzten Mal nach Frankreich kamen, entstammten allen Altersgruppen, „es waren Anfänger dabei, aber auch einige alte Hasen“, berichtet Mahkorn.

Die Behandlung, die sie ihnen anbieten kann, wurde nicht eigens für Musiker erfunden, sie stammt aus dem Repertoire der Verhaltenstherapie und hat sich bei Angst- und Panikstörungen bewährt. Die besondere Zutat ist sicherlich, dass sie selbst wie auch der Psychologe Michael Landsberg, der die Ambulanz mit ihr gründete und in seiner Freizeit Horn spielt, die Probleme der Musiker und das Repertoire der klassischen Musik kennen.

Mahkorn schätzt, dass fast ein Drittel der Orchestermusiker ab und an Medikamente aus der Gruppe der Betablocker nehmen. Ärzte verordnen sie eigentlich gegen hohen Blutdruck und Herzbeschwerden. Musiker bekämpfen mit den verschreibungspflichtigen Mitteln Symptome erhöhten Adrenalin-Ausstoßes wie Herzrasen, Schwitzen, Zittern und Luftnot. Mahkorn möchte stattdessen Strategien und Kompetenzen vermitteln, die die Zuversicht stärken, sich im Ernstfall auf sich selbst verlassen zu können.

„Damit muss man schon in der Ausbildung beginnen“, sagt Möller. „Die frühe medizinische und psychologische Unterstützung, die im Sport heute selbstverständlich ist, brauchen wir dringend auch für angehende Berufsmusiker.“ Genau deshalb hat er im Jahr 2002 für die Studenten der Universität der Künste und der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin das Kurt-Singer-Institut für Musikergesundheit gegründet, genau deshalb bietet er heute eine halbjährige berufsbegleitende Weiterbildung für Musiker an.

Möller nimmt das Wort „Lampenfieber“ lieber nicht in den Mund, wenn er von den Musikern erzählt, die in seine Berliner Praxis kommen. Schließlich umfasst es auch den ganz normalen Nervenkitzel, der sich auf das Spiel eher positiv auswirkt. Seine Patienten dagegen haben wegen ihrer Auftrittsangst auch Angst um ihre Karriere. Kein Wunder, zumal viele von ihnen schon erlebt haben, dass die Stimme oder die Finger ihnen nicht mehr gehorchen wollten. „Der Körper ist der schlauste Teil eines Musikers, er zeigt ihm zuerst, dass etwas nicht in Ordnung ist.“

Einen Teil der Therapie siedelt Möller auf den Bühnen der Musikhochschulen an. Wo die Angst entsteht, kann man an ihrer Überwindung besonders gut arbeiten. Stars wie Frédéric Chopin, Enrico Caruso oder Maria Callas, die zu Beginn ihrer Karriere ebenfalls unter schrecklicher Auftrittsangst gelitten haben sollen, haben das wohl ein Stück weit geschafft.

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