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Gesundheit: Die dritte Kultur

Von Hubertus Breuer Bescheidenheit ist nicht John Brockmans grösste Tugend. Als der rührige New Yorker Literaturagent Mitte der 90er Jahre im Internet seine Web-Seite www.

Von Hubertus Breuer

Bescheidenheit ist nicht John Brockmans grösste Tugend. Als der rührige New Yorker Literaturagent Mitte der 90er Jahre im Internet seine Web-Seite www.edge.org eröffnete, sprang neugierigen Lesern an der Stirn des Browserfensters folgendes Motto ins Auge: „Um die Grenzen unseres Wissens von der Welt auszuweiten, suche die klügsten und komplexesten Köpfe zusammen, setze sie zusammen in einen Raum und lasse sie sich gegenseitig die Fragen stellen, die sie umtreiben.“

Die Präambel klingt grossspurig, doch der Mann, den als Markenzeichen stets ein breitkrempiger Panamahut krönt, kann auf eine Schar grosser und respektabler Geister verweisen, die sich regelmässig auf seinem Onlineforum einfinden: Nobelpreisträger Murray Gell-Mann etwa, der den Bausteinen der Atomkerne, den Quarks, auf die Spur kam, der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins und der Philosoph Daniel Dennett, der das Gehirn für einen Computer hält.

Die schlauen Köpfe debattieren dort über Gott und die Welt: Was Leben ist, was die Erderwärmung verursacht oder was die neuesten Erkenntnisse aus der Immunforschung verraten. Fast so bunt, wie unter Ludwig XVI. einst Philosophen, Schriftsteller und politische Köpfe in herrschaftlichen Pariser Wohnzimmern disputierten – und der Revolution den Weg bereiteten.

Einen kleinen Umsturz betrieb auch Brockmans eloquente Gesprächsrunde: ihre eigene Aufnahme in jene Intellektuellenkreise, die früher das deutsche Feuilleton beherrschten und die angesichts von Reagenzgläsern und Schaltkreisen nur die Nase rümpften.

Jetzt erschien kürzlich die 100. Ausgabe von „Edge“ – mit einem Aufsatz des Gastgebers Brockman, betitelt „Die neuen Humanisten“. Für manche ein Grund zum Feiern, für den Impresario aber eine Gelegenheit, den rebellischen Geist noch einmal zu beschwören, mit dem er bereits vor elf Jahren den Bankrott der herrschenden Intelligenzkreise erklärte. Die Fortschritte in Biologie, Genetik, Physik, Robotik, all das, schreibt er, stellten grundsätzliche Annahmen darüber, wer und was wir seien, prinzipiell in Frage: „Jene, die daran beteiligt sind – Naturwissenschaftler, sich an ihnen orientierende Geisteswissenschaftler und einige Publizisten – stehen heute im Mittelpunkt des intellektuellen Geschehens.“

Mega-Bestsellerautor Hawking

Schon 1991 prägte Brockman für diesen Debattierzirkel ein griffiges Schlagwort: „Dritte Kultur“. Diesen Begriff hatte er dem britischen Physiker und Romancier C. P. Snow entlehnt und damit die populären Wissenschaftsautoren, von denen viele zu seinen erfolgreichen Klienten zählten, bezeichnet. Der wachsende Hang zur Pop-Science ließ sich erkennen, als Ende der achtziger Jahre der gelähmte Astrophysiker Stephen Hawking von seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Zeit“ mehrere Millionen Exemplare verkaufte – der bisher grösste Wissenschaftsbestseller.

Inzwischen ist die Dritte Kultur zum geflügelten Wort selbst der Feuilletons geworden. Heute finden sich im Kulturteil auch naturwissenschaftlich gebildete „Hommes de lettres“, die neueste Errungenschaften kommentierend in den Kontext der Kultur einpassen. An die Spitze des Intellektuellenrudels haben sie sich deswegen nicht unbedingt gesetzt. Doch immerhin einen Stammplatz im Debattenfeuilleton erkämpft.

Brockmans Buchgeschäft würde auch ohne „edge.org“ glänzend laufen, wenngleich das informelle Kränzchen seinem Laden gewiss nicht schadet. Seine Leidenschaft für den Debattierklub, für den er als Herausgeber und einziger Redakteur gut die Hälfte seiner Arbeitszeit verwendet, erklärt sich anders.

Als Zwanzigjähriger fand sich der damalige Student regelmässig bei Abendessen des Komponisten John Cage wieder. Alle kamen und tauschten sich aus – über Zen etwa oder Medientheorien. Damals zauberte Cage vor Brockman ein Buch hervor, von dem dieser noch nie gehört hatte: „Cybernetics“ von Norbert Wiener. Heute erinnert sich Brockman: „Die Künstler, die ich damals kannte, lasen naturwissenschaftliche Werke. Dort sahen sie geistigen Fortschritt.“

Der Reality Club

Die Begeisterung fand Anfang der achtziger Jahre eine Fortsetzung. Bereits etablierter Literaturagent, gründete er den Reality Club, eine lose Vereinigung von Naturwissenschaftlern, Künstlern und Journalisten, die sich ein- bis zweimal monatlich in New York trafen, um den Vortrag einer der Ihren zu hören und zu diskutieren. Bisweilen „recht unhöflich“, wie Brockman erzählt.

Einmal verließ etwa Nicholas Wade, Wissenschaftsjournalist der „New York Times“, nach einem Vortrag des Astrophysikers Robert Muller bebend den Raum. Er war scharf kritisiert worden, weil er geschrieben hatte, die Theorien Mullers gehörten verbannt. Dessen Thesen sind zugegeben abenteuerlich. Der Physiker behauptet, die Sonne könnte Bestandteil eines Doppelsternsystems sein, dessen Partner sich einmal in 26 Millionen Jahren umkreisen. Damit erklärt er das in diesem Zeitabstand wiederkehrende grosse Artensterben.

Aus solchen Diskussionen erwuchs Jahre später „Edge“. Ein Experte präsentiert ein Thema, das ihn beschäftigt, andere kommentieren kritisch den Vortrag. Da erklärt der britische Physiker Julian Barbour, dass Zeit nur eine Illusion sei. Oder Rodney Brooks, Chef des Labors für Künstliche Intelligenz am Massachusetts Institute of Technology (MIT) im amerikanischen Cambridge, berichtet von neuen Roboterkreationen. „Es fordert heraus“, sagt der Kognitionsforscher Steven Pinker, ebenfalls vom MIT. „Schließlich weiß man, dass helle Köpfe sehr genau lesen, was man da schreibt.“

Mitunter stellt Brockman Fragen an die ganze Gemeinde. So erkundigte er sich mitten im Millenniumswirbel 1999 nach der wichtigsten Erfindung der letzten 2000 Jahre. Er bekam Erstaunliches geboten: So votierte Murray Gell-Mann für das Verschwinden des Glaubens an Übernatürliches, während sich der Molekularbiologe Ernst-Ludwig Winnacker keineswegs für die Gentechnologie, sondern für das Händewaschen entschied.

Doch auch die Vordenker haben ihre Grenzen kennen gelernt. Als Brockman nach dem 11. September fragte „Was jetzt?“, artikulierten die Vertreter der „Dritten Kultur“ Ratlosigkeit. Richard Dawkins wetterte gegen Religion, die lehre, dass der Tod nicht das Ende sei. George Lakoff, Kognitionsforscher in Berkeley, meditierte über die Macht der Nachrichtenbilder. Brockman: „Ich habe nie behauptet, dass Naturwissenschaften Antworten auf politische Fragen liefern können.“

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