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Gesundheit: Die Kraft der Kügelchen

Universelle Heilmethode oder romantischer Irrweg? An der Homöopathie scheiden sich seit 200 Jahren die Geister

Die Frau ist 26. Sie klagt über krampfartige Schmerzen am Herz – „so, als würde es von einer Hand zusammengedrückt“. Die Beschwerden sind „nach einem großen Kummer“ vor zwei Jahren erstmals aufgetreten. Und dann sind da noch Schmerzen in der Magengrube, eine Kloßempfindung im Hals, halbseitige Gesichtsschmerzen, nächtliches Zähneknirschen, Blähungen, wenig Durst, Verlangen nach Salz, Angst vorm Alleinsein und manches mehr.

Kein Zweifel: die Frau leidet. Ihr Arzt, der Homöopath Klaus-Henning Gypser, sortiert die Krankheitszeichen. Dann schlägt er in der „Materia Medica“, dem Handbuch des Homöopathen James Tyler Kent (1816 bis 1916) nach.

Und hier wird er fündig: drei Beschwerdekomplexe der Patientin finden sich wieder – „Herz, Kummer, Konstriktion“, dazu „Gemüt und Verlangen nach Gesellschaft“ und „Zähneknirschen, Schlaf“. Kents Behandlungstipp: „Ignatia“, eine homöopathische Aufbereitung der Ignatiusbohne. Gypser verordnet das Mittel. Das Ergebnis: die Beschwerden an Herz, Gesicht und Magen verschwinden „vollständig“.

Der Fall findet sich in Gypsers Buch „Homöopathie“ (C. H. Beck Verlag). Der Arzt beschreibt in diesem Buch noch mehr Patientenschicksale, darunter auch schwere Krankheiten: Ein Säugling, der von den Eltern aus der Klinik „zum Sterben nach Hause“ geholt wurde, konnte von Gypser nach eigenen Angaben mit zwei Hochpotenz-Kügelchen „Pulsatilla“ (Küchenschelle) geheilt werden.

Umfassend gültige Heilmethode – oder romantischer Irrweg? Bis heute gehen die Meinungen über die Homöopathie weit auseinander. Das Fallbeispiel der 26-Jährigen mit den Herzschmerzen zeigt dabei gleich dreierlei: wie die Homöopathie funktioniert, weshalb sie im Widerspruch zur „Schulmedizin“ steht und warum sie so beliebt ist.

Streng genommen kennt die Homöopathie gar keine Krankheiten, sondern nur kranke Menschen. Menschen, die durch eine Störung ihrer Gesundheit bestimmte körperliche Zeichen – Herzschmerzen, Kloß im Hals, Zähneknirschen nachts – verspüren. Nicht die Wurzel der Beschwerden interessiert (etwa ein verborgener Krankheitserreger), sondern diese selbst sind schon der Schlüssel zur Lösung des Problems. Das wiederum liegt daran, dass die Konstellation der Beschwerden Rückschlüsse auf ein homöopathisches Mittel ermöglicht.

Damit sind wir bei der Behandlung. Sie beruht auf der von Hahnemann aufgestellten Ähnlichkeitsregel (Simile-Prinzip): Ähnliches heilt Ähnliches. Der Patient soll durch ein Mittel kuriert werden, dass in hoher Dosis ähnliche Beschwerden beim Gesunden hervorruft. Dem „Krankheitsbild“ entspricht ein „Arzneibild“.

Dementsprechend orientiert sich die Homöopathie an Symptom-Katalogen und an Wirkstoff-Verzeichnissen, die zueinander in Verbindung gebracht werden. Die Einteilung der Schulmedizin nach den Ursachen von Krankheiten (Entzündungen, Tumoren) oder dem Entstehungsort (Herz, Lunge, Niere) ist der Homöopathie dagegen fremd.

Ein weiterer wichtiger Grundsatz ist die „Potenzierung“. Homöopathische Arzneien werden oft in Zehnerschritten verdünnt, also ein Milliliter Ursubstanz in neun Milliliter Lösungsmittel. Im nächsten Schritt wird dann ein Milliliter dieser Verdünnung wiederum in neun Milliliter Lösung gegeben und zehnmal „verschüttelt“. Und so weiter. Das Schütteln soll helfen, die Wirkung zu „potenzieren“. Eine „Hochpotenz“ nach homöopathischen Grundsätzen ist daher paradoxer Weise nicht etwa besonders wenig, sondern besonders stark verdünnt. So sehr, dass meist nur noch winzige Überreste der Ursubstanz vorhanden sind – oder gar keine.

Mit ihrem Verständnis von Krankheit und ihrem Behandlungsverfahren widerspricht die Homöopathie der modernen Medizin. Das tut ihrer Beliebtheit jedoch keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Viele Patienten fühlen sich beim Homöopathen besser aufgehoben und ernst genommen. Das liegt auch daran, dass dieser zunächst die Beschwerden ganz genau erfragt – schließlich sind die Krankheitszeichen der Schlüssel zur Arznei.

Zudem ist die Behandlung „ganzheitlich“: Nicht das Beseitigen eines Krankheitserregers steht im Mittelpunkt, sondern der aus dem Gleichgewicht geratene Patient muss wieder in die Balance. Der Homöopath sieht den „ganzen“ Menschen. Und schließlich hat er fast stets am Ende eine Arznei parat. Selbst dort, wo die Schulmedizin ratlos ist.

Lassen sich die von den Homöopathen behaupteten Erfolge wissenschaftlich bestätigen? Die Hinweise dafür sind eher dünn gesät. Viele Untersuchungen halten kritischen Maßstäben nicht stand. Die Schulmedizin hat vier wesentliche Kritikpunkte:

Hochpotenzen sind naturwissenschaftlich nicht erklärbar. Wie kann eine Arznei wirken, in der kein Wirkstoff enthalten ist?

Zu Hahnemanns Zeiten waren viele medizinische Tatsachen unbekannt, etwa Bakterien und Viren, das System der Körperabwehr und die Vorgänge bei der Krebsentstehung. Sie werden deshalb in der Homöopathie nicht entsprechend berücksichtigt. Hahnemann selbst sah in der Störung einer materiell nicht fassbaren „Lebenskraft“ die Ursache von Krankheit.

Für den Grundsatz „Ähnliches heilt Ähnliches“ gibt es keine rationale Basis. Das am ehesten mit ihm vergleichbare Prinzip aus der Schulmedizin ist die Impfung, doch diese beugt vor und verändert das Immunsystem.

Fazit: Aus Sicht der Schulmedizin beruhen die Erfolge auf Suggestion, auch Placebo-Effekt genannt. Für den Homöopathen Gypser steckt hinter solcher Kritik Angst vor Ansehensverlust, Verstrickung im naturwissenschaftlichen Denken und Ärger über die Kostengünstigkeit der Methode. Er antwortet mit einem Wort Martin Heideggers: „Es ist die höchste Not, dass es denkende Ärzte gibt, die nicht gesonnen sind, den wissenschaftlichen Technikern das Feld zu räumen.“

Die nächste Folge zum Thema Wirbelsäule und Rücken erscheint am Dienstag, den 2. März.

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