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Gesundheit: Die Pockenepidemie vom Aral-See

Von Hermann Feldmeier Schon seit langem gehen amerikanische Sicherheitsbehörden davon aus, dass während der Abwicklung des russischen „Biopreparat“-Programms Ende der 90er Jahre Biowaffenfähige Erreger, darunter auch Pockenviren, in falsche Hände gelangt sind. In Anbetracht der Ereignisse vom September vergangenen Jahres haben die USA deshalb - im größten Einzelauftrag, der je einem Pharmaunternehmen vergeben wurde -, 300 Millionen Impfdosen Pockenvakzine bestellt.

Von Hermann Feldmeier

Schon seit langem gehen amerikanische Sicherheitsbehörden davon aus, dass während der Abwicklung des russischen „Biopreparat“-Programms Ende der 90er Jahre Biowaffenfähige Erreger, darunter auch Pockenviren, in falsche Hände gelangt sind. In Anbetracht der Ereignisse vom September vergangenen Jahres haben die USA deshalb - im größten Einzelauftrag, der je einem Pharmaunternehmen vergeben wurde -, 300 Millionen Impfdosen Pockenvakzine bestellt. Diese werden Ende des Jahres ausgeliefert. Bei einer Anhörung im Nationalen Institut für Medizin wurde klar, dass dieser Impfstoff möglicherweise nur eingeschränkt wirksam ist. Personen, die mit einer ähnlichen Vakzine Anfang der 70er Jahre geimpft wurden, sind nämlich an Pocken erkrankt.

Nach einem Bericht des Monterey-Instituts für Internationale Studien, der auf der Anhörung präsentiert wurde, gab es Anfang August 1971 in der Stadt Aralsk in Kasachstan eine Pocken-Epidemie. Zehn Personen erkrankten - davon starben drei -, einige Hundert wurden unter Zwangsquarantäne gestellt, und die 50 000 Einwohner von Aralsk wurden in einer Nacht- und Nebelaktion gegen die Pocken geimpft.

Wie Alan Zelicoff, einer der Mitautoren des Berichts, ausführte, spricht einiges dafür, dass die Erreger bei Feldversuchen auf der Insel Vozrozhdeniye im Rahmen des russischen B-Waffen-Forschungsprogramms in die Luft gelangten und mit dem Wind auf den Aral-See hinausgeweht wurden.

Über die Atemwege

Zumindest eine Person der Besatzung des kleinen Fischforschungskutters „Lev Berg“, der vor dem Sperrgebiet kreuzte, nahm die Erreger über die Atemwege auf. Die Matrosin steckte nach der Rückkehr der „Lev Berg“ nach Aralsk ihren kleinen Bruder an, der wiederum die Erreger auf andere Personen übertrug.

Der Vorfall ist von der russischen Regierung bis heute nicht offiziell bestätigt worden. Allerdings präsentieren die Experten des Monterey-Instituts in ihrem Bericht zahlreiche Indizien, die den Ablauf der Ereignisse in der geschilderten Weise wahrscheinlich machen. So ist dokumentiert, dass am 30. Juli 400 Gramm Pockenviren (eine unvorstellbar große Zahl von Erregern) auf der Insel freigesetzt wurden, einen Tag bevor die „Lev Berg“ vor Vozrozhdeniye im Abstand von rund 15 km vorbeifuhr.

In Anbetracht der Datenlage wird es den russischen Behörden schwer fallen zu erklären, warum die Variola-Epidemie von Aralsk nicht der Weltgesundheitsorganisation gemeldet wurde. Denn Pocken waren damals wie heute eine meldepflichtige Erkrankung. Auch passt ins Bild, dass acht Jahre später eine Epidemie durch Milzbrand-Erreger, die versehentlich von einem Forschungsinstitut in Swerdlowsk freigesetzt wurden und zum Tode von 65 Menschen führten, ebenfalls unter den Teppich der militärischen Geheimhaltung gekehrt wurde.

Vom Wind fortgetragen

Die Pockenepidemie von Aralsk ist unter zwei Aspekten bemerkenswert. War man bislang davon ausgegangen, dass bei einem terroristischen Anschlag mit Variola die Erreger innerhalb eines Gebäudes – beispielsweise in einem Einkaufszentrum oder einer Sporthalle – freigesetzt werden würden, so zeigten die Erkrankungen an Bord der „Lev Berg“, dass eine Übertragung der Viren auch durch den Wind über eine große Distanz möglich ist. Terroristen könnten also – bei Kenntnis örtlicher Windverhältnisse – aus sicherer Distanz Pockenviren über eine Stadt oder eine Region verbreiten.

Ungewöhnlich bei der Epidemie aus der Zeit des Kalten Krieges ist auch, dass bei den drei verstorbenen Personen hämorrhagische Pocken auftraten. Dieses Krankheitsbild ist ausgesprochen selten und tritt bei weniger als drei Prozent aller Pockenfälle auf. Da auch sieben Menschen an Pocken erkrankten, die zuvor eine Schutzimpfung erhalten hatten (die normalerweise hundertprozentig vor Variola schützt), ist die Frage berechtigt, ob es sich bei den Erregern von der Insel vielleicht um eine besonders aggressive Variante aus dem Schreckensarsenal russischer B-Waffen-Forschung gehandelt hat.

„Die Russen müssen jetzt Farbe bekennen", sagte Raymond Zilinskas, Ko-Autor bei der Monterey-Studie, „und uns genaue Informationen über die Vorgänge auf der Vozrozhdeniye-Insel geben. Ich bin sicher, dass die Variola-Variante, die damals zur Epidemie führte, noch in der Tiefkühltruhe eines russischen Forschungslabors vorhanden ist.“

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