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Gesundheit: Dr. Einsam wird gesellig

Wer promoviert, ist oft Einzelkämpfer und wird zu spät fertig. Die europäischen Bildungsminister wollen das ändern

Anna schreibt ihre juristische Dissertation über das Insolvenzrecht im stillen Kämmerlein. Während ihre Kinder in der Kita sind, zieht sich die 32-Jährige ins häusliche Arbeitszimmer zurück und wälzt Urteile und Kommentare. Anna lebt in Rostock; mit ihrem in Hamburg lehrenden Doktorvater kommuniziert sie via E-Mail. Prognose: Anna sitzt mindestens fünf Jahre an ihrer „Diss“, wenn sie nicht zu den vielen Abbrechern unter den weitgehend unbetreuten Doktoranden gehört.

Ganz anders promoviert Alexander – an einem Graduierten-Kolleg. Einmal in der Woche trifft sich der Slawist mit seinen fünfzehn Mitstreitern und mehreren Hochschullehrern verschiedener Disziplinen am Osteuropa-Institut, einmal im Monat gibt es eine mehrtägige Präsenzphase. Nicht nur die Konzeption und einzelne Kapitel seiner Arbeit stellt Alexander dort zur Diskussion, er hält auch Seminarvorträge über politische und historische Hintergründe seines Forschungsgegenstandes. Prognose: Alexander legt seine Doktorarbeit nach drei Jahren vor.

Schreckensbild und Ideal der deutschen Doktorandenausbildung? „In Deutschland entstehen noch zu viele Dissertationen in Eins-zu-Eins-Betreuung und das ist nicht mehr zeitgemäß“, sagt Hermann Müller-Solger vom Bundesbildungsministerium, der einer der Koordinatoren der heute in Berlin beginnenden Bologna-Konferenz ist. Neues Thema der europäischen Einigung über die Hochschulbildung ist bei diesem Treffen die Promotion – der „dritte Zyklus“ nach den Bachelor- und Masterstudiengängen.

Unter den in Deutschland verbreiteten individuellen Betreuungsverhältnissen leide oftmals die wissenschaftliche Qualität der Arbeiten – bei zu langen Promotionszeiten, sagt Hermann Müller-Solger. Durchschnittlich 4,6 Jahre brauchen Absolventen für ihre Arbeit, bei der Promotion sind sie inzwischen im Schnitt 33 Jahre alt, in den Sprach- und Kulturwissenschaften sogar 36 Jahre.

Im europäischen Ausland und in den USA liegt das Durchschnittsalter der Promovierten knapp unter 30 Jahren. Dort ist der akademische Nachwuchs in der Regel von Anfang an schneller, ist früher eingeschult worden und hat früher die Hochschulreife erlangt. Aber auch die Promotionsphase ist jenseits der deutschen Grenzen ein weitgehend geregeltes Verfahren. Frankreich, Großbritannien und die Niederlande haben in den vergangenen Jahren ihre Doktorandenausbildungen reformiert – nach anglo-amerikanischem Vorbild. Dort durchlaufen Nachwuchswissenschaftler ein Ph.D.-Programm an einer Graduate School an den Universitäten. Es beginnt mit einem dreijährigen obligatorischen Ausbildungsprogramm, dass mit Examina endet. Erst danach präsentieren die Studenten ihr Dissertationsprojekt; wenn es zugelassen wird, haben sie weitere zwei bis vier Jahre Zeit zu forschen und ihre Ph.D.-Thesis zu schreiben. In Frankreich werden jetzt den Graduate Schools vergleichbare, seit 1988 bestehende „Écoles doctorales“ ausgebaut; in den Niederlanden gibt es seit Anfang der Neunzigerjahre „Onderzoekscholen“.

„Die Hochschulen sollen für ihre Doktorandinnen und Doktoranden forschungsorientierte Studien anbieten“, heißt es auch im 2002 reformierten deutschen Hochschulrahmengesetz. Der Ausweg aus dem Doktoranden-Dilemma wäre in der Tat eine strukturierte, interdisziplinär ausgerichtete Ausbildung im Team, sagt Hermann Müller-Solger vom Bildungsministerium . Das machten die seit 1990 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Graduiertenkollegs überaus erfolgreich vor.

Im Oktober 2002 wurden gleichzeitig 277 Kollegs gefördert, in die 4150 Promovierende mit einem Stipendium eingebunden waren. Nach einer kürzlich veröffentlichten Befragung der DFG schätzt der Nachwuchs die gute Betreuung – und ist zuversichtlich, seine Arbeit in drei Jahren schaffen zu können. Klagen gab es allerdings unter anderem über „mangelndes Engagement der Hochschullehrer“. In den Genuss der modellhaften – und wegen der Stipendien von monatlich 920 Euro auch teuren – Ausbildung kommen indes nicht einmal zehn Prozent der Doktoranden. Der Wissenschaftsrat schätzt, dass die Gesamtzahl der aktuell Promovierenden „im hohen fünfstelligen Bereich“ liegt – und empfiehlt die „flächendeckende Einführung von Promotionskollegs“.

Für den Entwurf der Berliner Bologna-Abschlusserklärung hatte das Bundesministerium als gemeinsames Ziel ein „strukturiertes Doktorandenstudium“ vorgeschlagen. Offenbar auf Druck der Bundesländer steht jetzt aber nur die abgeschwächte Definition eines „interdisziplinär angelegten Doktorandenstudiums“ zur Diskussion. „Interdisziplinär“ weise immerhin auf ein kollektiv angelegtes Ausbildungssystem hin, tröstet sich Hermann Müller-Solger. Später könne das Ziel ja wieder präzisiert werden – genau darin sehe Ministerin Edelgard Bulmahn ihren Beitrag zum Bologna-Prozess.

Die Rostockerin Anna hat inzwischen wieder eine Nachricht von ihrem Professor bekommen. „Gute Fragen“, mailt er, „aber die Antworten müssen Sie selber finden.“ Über ihr Thema gäbe es eben wenig Literatur. Jetzt weiß die Einzelkämpferin, dass Deutschlands Juristen auf ihre Arbeit warten – und will in achtzehn Monaten fertig werden.

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