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Gesundheit: Ein Berliner Graduiertenkolleg erforscht die Bedürfnisse von Senioren - mit erstaunlichen Ergebnissen

"Als ich nach Berlin zog, fielen mir sofort die kurzen Ampelphasen auf", erinnert sich Nina Rieckmann. "Da komme ich selbst kaum über die Straße.

"Als ich nach Berlin zog, fielen mir sofort die kurzen Ampelphasen auf", erinnert sich Nina Rieckmann. "Da komme ich selbst kaum über die Straße." Die aus Lübeck stammende Psychologin achtet jetzt genau darauf, ob die Stadtplaner auch an die Bedürfnisse von Senioren gedacht haben. Überhaupt ist sie durch ihre Forschungen dafür sensibilisiert, "mit offenen Augen durch die Stadt zu gehen". Täglich geht sie der Frage nach, was das Alltagsleben von Menschen ab 70 Jahren befördern kann.

Nina Rieckmann gehört zu den zehn jungen Fachleuten, die am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und an der Freien Universität an einem Graduiertenkolleg über "Psychiatrie und Psychologie des Alters" teilnehmen. Unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft beschäftigen sie sich seit zwei Jahren mit der Altersproblematik, etwa mit der Orientierungsfähigkeit von Senioren, der Früherkennung von Demenzen und Depressionen. Da viele dieser Erscheinungen sowohl das Wissen eines Arztes als auch das eines Psychologen erfordern, ist es vorteilhaft, dass bei den wöchentlichen Diskussionen im Kolleg Vertreter beider Disziplinen an einem Tisch sitzen.

In Deutschland gehört die Gerontologie nicht gerade zu den begehrtesten Fächern. Während des Psychologie- und des Medizinstudiums stehen Seminare über das Älterwerden nur selten auf dem Stundenplan. Doch bezogen auf die Gesamtbevölkerung steigt der Anteil der über 70-Jährigen ständig. Erst seit einigen Jahren wird intensiv darüber nachgedacht.

Negative Stereotypen

In den USA sind die Forscher schon viel weiter, glaubt der Psychologie-Professor Paul B. Baltes, der das Graduiertenkolleg zusammen mit dem Psychiatrie-Professor Hanfried Helmchen leitet. In Amerika würde deutlich mehr Geld in die einschlägige Forschung investiert. "Die Gerontologie ist zwar ein Gebiet, das im Moment Hochkonjunktur zu haben scheint", sagt Baltes. "Aber sie hat nur eine kurze Tradition der hochqualifizierten Forschungsförderung."

Baltes gehört zu den Autoren der "Berliner Altersstudie", die auf die Ergebnisse einer Langzeituntersuchung zurückgreift. Zwischen 1990 und 1998 wurden im Westteil der Stadt ältere Menschen befragt und beobachtet, die Vorstellungen der übrigen Bevölkerung über die Senioren kritisch unter die Lupe genommen. An der Arbeit beteiligten sich fast fünfzig Wissenschaftler aus Berlin, darunter Experten aus der Medizin, der Psychologie und den Sozialwissenschaften. Das Graduiertenkolleg baut auf die Studie auf.

Den Doktoranden geht es auch darum, mit dem negativen Bild aufzuräumen, das über Senioren besteht. "Ältere Menschen sind durchaus in der Lage zu lernen", sagt die Psychologin Ute Schulz. Durch Training könnten sie beispielsweise ihre körperliche Mobilität erhöhen. Auch therapeutische Erkenntnisprozesse seien möglich. Bereits in der Berliner Altersstudie verwiesen Baltes und sein Ko-Autor, der Soziologe Karl Ulrich Mayer, auf den Irrglauben bezüglich vieler Erscheinungen im Alter. So bestehe die weitverbreitete Vorstellung, dass sich die meisten Senioren ständig krank fühlten und an einer ernsthaften Beeinträchtigung ihrer geistigen Leistungsfähigkeit litten. Beides ist nachgewiesenermaßen falsch. Lediglich 33 Prozent der über 70-Jährigen beurteilen ihre körperliche Gesundheit nur als ausreichend oder mangelhaft, etwa 17 Prozent berichten von kognitiven Störungen. "Die Gerontologen wollen bewusst einen positiven Akzent setzen, weil es ein negatives Altersstereotyp gibt", sagt Baltes.

Im Graduiertenkolleg wird auch die Frage diskutiert, wie verschiedene Krankheiten früh erkannt werden können. Der Psychologe Guido Kurtz beschäftigt sich mit der Behandlung von Depressionen. Erfahrungen zeigen, dass die meisten Senioren sich mit diesem Leiden an einen praktischen Arzt wenden. Obwohl bis zu einem Fünftel der über 70-Jährigen an einer derartigen Störung leiden, sagt Kurtz, würden viele falsch oder überhaupt nicht behandelt. "Das hängt auch mit dem Vorurteil zusammen, daß die Alten sowieso nur klagen, und man nichts ändern kann."

Die Diskussionen der letzten Jahre haben zur Folge, dass die Senioren jetzt langsam aber sicher doch anders wahrgenommen werden. "Früher dachte man, daß man gegen das Altern nicht allzu viel tun kann", sagt die Psychologin Jacqui Smith, die am Max-Planck-Institut zu den Betreuern der Kollegiaten gehört. "Aber langsam sehen die Leute, daß man präventiv arbeiten und doch einiges verändern kann."Die Berliner Altersstudie von Karl Ulrich Mayer und Paul B. Baltes ist im Akademie Verlag in einer zweiten, korrigierten Auflage erschienen. Das Buch kostet 78 Mark.

Josefine Janert

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